Die studierte Gesellschaft

von Nadine Schmidhammer
Lesezeit: 5 min
Jährlich wächst die Zahl an Immatrikulationen an Universitäten und Hochschulen. Nicht nur in Österreich. Ein positiver Trend, der aber auch seine Schattenseiten hat.

Das Wasser in der Dusche läuft heute nur kalt. Der Abfluss in der Küche ist seit drei Tagen verstopft. Dem Wohnzimmertisch fehlt ein Bein. Und… Und wen soll ich anrufen? Genau so waren die letzten Tage in meiner WG in Innsbruck. Und ich bin kein Einzelfall. Natürlich kann immer einmal etwas daneben gehen und Missgeschicke kommen selten allein, auch wenn man ihnen noch so gerne aus dem Weg gehen möchte. Das Geschilderte ist ja auch nicht unbedingt Stoff für Dramen, es sind vielmehr theoretisch lösbare Problemchen – mit viel Betonung auf theoretisch. Würde man doch nur einen Handwerker oder eine Handwerkerin finden!

Genauer gesagt: Auffindbar sind die in feuer-, schnitt- und wasserfeste Kleidung gehüllten „Mander“ und „Manderinen“ schon, sie verstecken sich ja nicht vor zahlender Kundschaft. Das Problem ist, dass sie im Vergleich zu den Arbeiten, die es für sie zu verrichten gilt, maßgeblich in der Unterzahl sind. Im Winde flattern auch die Flyer von Restaurants, die vergeblich nach Küchenpersonal und Kellner:innen suchen, von den Zettelchen mit den Telefonnummern – darauf fast keines abgerissen. Es lassen sich noch unzählige weitere Beispiele finden, in vielen Sparten fehlen helfende Hände.

Ich bedanke mich beim dritten Handwerksunternehmen für den Rückruf, aber der Termin nächste Woche Donnerstag dauert mir und meiner kalten Dusche dann doch etwas zu lange. Also wird weitergesucht, was gar nicht so leicht ist, denn es mangelt. Es mangelt an Handwerker:innen. Köch:innen. Reinigungskräften. Verkäufer:innen. Die Liste ist lang, und wenn man sie sich genauer anschaut, fällt eines schnell auf: Es mangelt nicht an Akademiker:innen. Allein in meiner Straße gibt es drei Rechtsanwaltskanzleien, einen Makler und gleich vier Finanzberater, na gut, es ist eine recht lange Straße, aber erscheint mir doch irgendwie viel. Wo sich die nächstgelegene Tischlerei befände, weiß ich hingegen nicht. Interessehalber informiere ich mich darüber, während ich in einem unterbesetzten Lokal seit 40 Minuten auf mein Rührei mit Schinken warte.

Entwicklung mit Folgen

Als ich im letzten Jahr als völliges Landei in die – für mich – pulsierende Großstadt Innsbruck kam, freute ich mich sehr über die vielen Student:innen. Gleichgesinnte. Ich hatte den Eindruck, alle wollen lernen, sich weiterbilden. Ein schönes Gefühl. Ich schätze die Fortschritte, die in den letzten Jahrzehnten im Bildungsbereich gemacht wurden, sehr.

Die Möglichkeiten, sich weiterzubilden, sind zahlreich. Und zumeist für alle offen, auch wenn viele Bereiche sogar heute noch als „typisch männlich“ oder „typisch weiblich“ angesehen werden. Nichtsdestotrotz findet sich für jeden etwas und viele entscheiden sich auch nach der Schulzeit, weiter zu lernen. Dieser Trend spiegelt sich in der Folge dann natürlich auch in der Arbeitswelt wider; für viele Stellen und Jobs gelten hohe Anforderungen. Abgeschlossenes Studium, Doktortitel, hochkarätige Praktika, et cetera.

Alle wollen hoch hinaus

Die Tatsache, dass in der höheren Bildung viel verlangt wird und auf diese Anforderung gut bezahlte und begehrte Arbeitsplätze folgen, mündet schließlich auch darin, dass bestimmte Berufe in unserer Gesellschaft angesehener sind als andere. Wir hierarchisieren. Die Hs, Handwerk, Handel, Haushalt und weitere Berufsgruppen werden immer wieder klein geredet, während andere hochgepriesen werden. Als Konsequenz dessen wiederum drängen viele Eltern ihre Sprösslinge dazu, praktische Berufswünsche beiseitezulegen und ein Studium zu beginnen. Besser mit dem Köpfchen arbeiten und die Hände ruhen lassen. Fällt umso leichter, wenn wir bedenken, wie gut man mit eben diesem Köpfchen verdienen kann. Wenn man immer wieder hört, wie viel bessere Chancen man als Akademiker:in im Leben hat und dies auch eine gesamtgesellschaftliche „Wahrheit“ darstellt, verwirft der:die eine oder der:die andere schon mal die eigenen Wünsche, auch wenn mancheine:r im Hörsaal sitzend vielleicht von einer Lehrlingsstelle träumt.

Im letzten Jahrzehnt herrschte noch Knappheit an Ausbildungsplätzen in Handwerksbetrieben oder im Einzelhandel; für einen Platz bewarben sich in meiner Heimat Südtirol oftmals zehn Kandidat:innen. Vor einigen Wochen hingegen hat die autonome Provinz Bozen beschlossen, Betrieben einen Zuschuss zu bieten, sollten sie Lehrlinge anwerben, einstellen und ausbilden. Was wir nun verzweifelt suchen und brauchen, gab es vor nicht einmal einem Jahrzehnt in Hülle und Fülle. Bei genauerem Überlegen sogar traurig, dass Berufe, ohne die wir als Gesellschaft nicht zurechtkommen würden, nicht geschätzt und somit nicht begehrt werden. Bis zu dem Punkt, an dem man sie jungen Leuten, wie den Spinat auf dem Kinderteller, schmackhaft reden muss. Noch trauriger scheint es mir, dass eine bessere Entlohnung der Ausbilder:innen und der Auszubildenden erst angestrebt wird, wenn in einigen Sparten die Quelle an Arbeitskraft fast versiegt ist.

Was ist Wert?

Von den zahlreichen Studenten, die tagein und tagaus die Räumlichkeiten der Weiterbildungsstätten fluten, mögen sicherlich viele auf Geheiß ihrer eigenen Träume, Wünsche, Überlegungen, Entscheidungen, Ideen oder Pläne dort sein. Jenen, bei welchen dies nicht so ist, sollten schleunigst die Beine in die Hand nehmen und sich für eine Lehrstelle oder Ähnliches bewerben. Es gibt keine Berufe, die weniger wert sind. Es gibt keine irrelevanten Träume oder Zukunftspläne. Diese Ansichten sollten wir schon vom Kleinkindalter an aus unseren Köpfen verbannt haben. Natürlich möchten Eltern stets das Beste für ihre Kinder, das Beste heißt allerdings nicht immer das meiste Geld auf dem Konto oder den größten Garten vor dem Einfamilienhaus, sondern Freude an dem, was man macht. Und diese Freude kann mein Finanzberater genauso empfinden wie mein Installateur. Fein wäre nebenbei aber schon noch, wenn die Freude auch zu gleichen Stücken und gerecht entlohnt werden würde.

Es braucht Studierte, es braucht Denker und Forscher. Es braucht Köpfchen. Die erweiterten Möglichkeiten, sich fortzubilden, sind keinesfalls etwas Schlechtes. Stellt man sich die Gesellschaft als Körper vor, braucht es den Kopf dringend. Die Hände braucht es allerdings genauso; sie sind nicht weniger wichtig. Wir sollten praktische Berufe nicht kleinreden und ihre Wichtigkeit anerkennen. Und ich wäre zudem heilfroh, wenn mir endlich jemand meine Dusche reparieren würde…

Dieser Artikel erschien erstmals in der Oktober-Ausgabe 2022.

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