Was bieten Riten?

von Hannah Stadler
Lesezeit: 4 min
Das Gefühl der Zugehörigkeit, ein Moment der Ehrfurcht, die Feierlichkeit des Augenblicks, das Gefühl, unaussprechlichem Schmerz Ausdruck zu verleihen – das alles kann bei einem Ritual empfunden werden.

Typischerweise sind traditionelle Rituale besonders in Zeiten der Veränderungen oder Übergangsphasen zu finden. Beispielsweise häufen sie sich bei Jahreskreiswechseln – in der Weihnachtszeit, zu Frühlingsbeginn (Grasausläuten) oder im Herbst (Erntedankfest). Manche dieser Rituale setzen sich in der modernen Gesellschaft durch, besonders wenn sie der Wirtschaft einen Mehrwert bieten können – so die Weihnachtszeit mit ihrem Ritual des Schenkens. Andere wiederum geraten in Vergessenheit. Die Mystik, die Ritualen anhaftet, scheint oft im Widerspruch zum säkularen, nüchtern-modernen Menschen zu stehen. Unsere Gesellschaft – strebend nach Fortschritt und Innovation – bietet immer weniger Platz für Rituale. Andererseits sind trotz oder gerade aufgrund der Schnelllebigkeit unserer Zeit viele Menschen auf der Suche nach Sinngebung und Beständigkeit. Mit der Abkehr von Religionen geht auch ein Hinterfragen traditioneller, religiöser Zeremonien einher. Dennoch sind Rituale wichtig für uns. Sie helfen uns dabei, Lebensübergänge zu zelebrieren und grenzen Lebensabschnitte voneinander ab. Der Übergang vom Kind zum Jugendlichen durch die Feier der Konfirmation oder später die Hochzeit oder die Geburt eines Kindes läuten solche neuen Abschnitte ein. Mit dem Ritual der Taufe heißt man gemeinsam mit Familie und Freunden ein Kind in der Welt willkommen. Beim Trauungsritual tut man in einem feierlichen Rahmen sein Glück der Gemeinsamkeit kund und bei einer Beerdigung teilt man seine Trauer mit Menschen, die einem nahestehen. Rituale weisen uns auf zwei paradoxe Grundwahrheiten des Lebens hin: Veränderung und Vergänglichkeit. Eine Abwendung von religiösen Zeremonien bei den existentiellsten Ereignissen des Lebens – Geburt und Tod – stellen auch den „modernen Menschen“ vor ein psychologisches Dilemma. Wie geht eine säkularisierte Gesellschaft mit dieser Veränderung um und hat sie ihre eigenen, neuen Rituale entwickelt?

Jeden Abend ein Glas Wein

Der Philosoph Odo Marquard beschreibt Rituale als „geltend, weil sie schon galten“. Das begründet er damit, dass Rituale nicht von heute auf morgen entstehen, sondern auf dem Boden einer Kultur wachsen müssen. Die Sozial- und Gestaltungspädagogin Johanna Neußl löst sich von dieser Notwendigkeit. Sie ist Teil von „Netzwerk Rituale Österreich“. Das Netzwerk bietet Interessierten den Service der Ritualgestaltung. Gemeinsam mit den Ritualleitern und Ritualleiterinnen werden Rituale nach individuellen Wünschen geplant, vorbereitet und durchgeführt. Dabei können alle möglichen Ereignisse wie Geburt, Verpartnerung, Verabschiedung, Trennung, Heilung oder Jahreszeitenfeste mit Ritualen begleitet werden. Für Neußl stellt der Begriff „neue Rituale“ keinen Widerspruch dar. Dabei könne man sich die Kraft von existierenden Ritualen zu Nutze machen oder diese neu definieren. „Für mich sind Rituale bewusst gesetzte, symbolische Handlungen, um durch Achtsamkeit einen Anlass oder ein Thema schön zu gestalten.“ Rituale sind kraftvoll, denn sie lösen Emotionen im Menschen aus. Neußl unterscheidet dabei zwischen Gewohnheiten und Ritualen:

Wenn ich jeden Abend ein Glas Wein auf meiner Terrasse trinke, ist dies eine Gewohnheit und noch kein Ritual.

Rituale steigern das emotionale Engagement. Wenn man dieser Tätigkeit eine Bedeutung gibt, ihr einen Symbolgehalt beimisst, kann sie sich durchaus in ein Ritual entwickeln. Sie können eben diese Tätigkeit wie das abendlichen Weintrinkens oder den morgendlichen Kaffeekonsum zu etwas Besonderem machen. Durch die Routine und Wiederholung geben Sie dem Alltag eine Struktur, steigern die Vorfreude und können in einem gewissen Ausmaß sinngebend wirken.

Rituelles maßgeschneidert

Für Neußl gibt es keine Rituale nach Rezept. Es gilt, Emotionen, die man schwer in Worte fassen kann, zu unterstreichen, beispielsweise das zum Ausdruck bringen von kollektivem Schmerz durch eine Schweigeminute. Dieser Moment kann sehr kraftvoll sein. Er verbindet Menschen, die in diesem Augenblick etwas gemeinsam haben: Sie alle gedenken einer Person, die ihnen etwas bedeutet hat. Bei der Ritualgestaltung müssen die Zeremonien dem Anlass und der Absicht, die erfüllt werden soll, angepasst werden. Menschen, die gerne ein Thema zelebrieren wollen, wenden sich an die Ritualleiter und Ritualleiterinnen. Diese suchen gemeinsam nach Handlungen oder Symbolen, welche für die Personen eine Bedeutung haben und dem Anlass nach als passend empfunden werden. Angeboten wird beispielsweise ein Ritual zum „Fest der Liebe“. Mit Symbolen und rituellen Handlungen soll die Liebe ausgedrückt werden. Das kann durch gute Wünsche, den Segen durch Familie und Freunde oder in Zeichen und Gegenständen der Verbundenheit zelebriert werden. Für Neußl persönlich ist ein Ritual dann besonders schön, „wenn es gelingt, in der Seele oder im Herzen etwas zu bewegen“, also wenn es das Ritual schafft, eine Empfindung im Menschen auszulösen, wie ein Gefühl der Zugehörigkeit, Verbundenheit, Vertrautheit oder Liebe.

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