35 Jahre Mauerfall: Zeitzeugen aus Ost und West im Interview

von Hannah Mayer
Lesezeit: 10 min
Vor 35 Jahren verkündete Günter Schabowski irrtümlicherweise die sofortige Grenzöffnung zwischen Ost und West und markierte damit das Ende der DDR und den Neuanfang für ein Land, das über 40 Jahre lang geteilt war. In einem Gespräch mit UNIpress lassen zwei Zeitzeugen ihr unterschiedliches Leben in  den beiden Staaten und die Ereignisse vor und nach dem 9. November 1989 Revue passieren.

Es ist später Nachmittag. Ich treffe mich erst mit Sandy, dann mit Mathias. Obwohl sie dieselbe Sprache sprechen, wurden sie in verschiedenen Ländern geboren: Sandy ist in der DDR groß geworden. Dort lebte sie, bis ihre Familie die Nachricht der Grenzöffnung erreichte. Noch in der gleichen Nacht verließen sie Ostdeutschland, um in Bayern ein neues Leben zu beginnen. Mathias ist im Norden der BRD aufgewachsen. In seiner Jugend hat er mehrere Reisen in die DDR unternommen. Heute leben beide im gleichen Land.

UNIpress: Wie habt ihr das Leben vor dem Mauerfall erlebt?

Sandy: Ich hatte eine sehr behütete Kindheit in der DDR. Es war ein ruhiges Leben für uns Kinder. Als Kind hattest du einen geregelten Alltag. Du warst aufgehoben. Du warst Jungpionier, dann warst du Thälmannpionier, dann kam irgendwann die Freie Deutsche Jugend und damit warst du als Kind angebunden. 

Mathias: So wie es heute ist. Wir hatten alles zu unserer Verfügung und konnten überall hingehen.

UNIpress: Sandy, wie hast du das Leben in der BRD wahrgenommen, besonders im Vergleich zu deinem Leben in der DDR?

Sandy: Uns wurde durch die Schule eingetrichtert, dass der Westen der Klassenfeind ist und dass das nicht das wahre Leben ist, sondern dass der Sozialismus und der Kommunismus das einzig Wahre sind. Wie in jeder Diktatur bekommst du von klein auf eine Gehirnwäsche.

UNIpress: Und Mathias, wie hast du das Leben in der DDR wahrgenommen, besonders im Vergleich zu deinem Leben in der BRD?

Mathias: Die Gegend, in der ich aufgewachsen bin, gehörte zum Zonenrandgebiet, deshalb konnten wir DDR-Fernsehen empfangen. Was dort im Fernsehen gesagt wurde, wurde immer milde belächelt. Ich war auch einige Male dort in der DDR und habe dadurch die Unterschiede kennengelernt. Der Osten ist nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger stehen geblieben. Das hat man auch an Häusern und Gebäuden gesehen. Da war nichts verputzt, da waren teilweise noch Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg drin, da war nichts repariert, weil einfach das Geld oder das Material gefehlt hat. Einmal war ich auf Klassenfahrt in der DDR. Da habe ich das nochmal genauer mitbekommen, wie die dort gelebt haben. Die Leute im Osten durften nicht frei reisen und hatten weniger Luxusgüter als wir im Westen. Das hat mir ein bisschen leid getan. Von der Regierung oder von der Stasi wurden wir dort beobachtet und hatten auch einen Begleiter dabei. Es war genau vorgeschrieben, mit wem wir reden, wo wir hinfahren, wo wir aussteigen. Aber wir hatten trotzdem Kontakt zu Jugendlichen oder zu Menschen in der DDR und die fand ich alle sehr offen und sehr nett.

UNIpress: Sandy, wie hat sich die Überwachung durch die Stasi auf dein tägliches Leben ausgewirkt?

Sandy: Auf mich als Kind nicht direkt. Ich habe es trotzdem gemerkt, weil mein Vater bei der Energie als Starkstromelektriker gearbeitet hat. Dadurch waren wir die Einzigen in unserem Haus, die ein Telefon hatten und unser Telefon wurde definitiv überwacht. Dann sind Nachbarn zu uns gekommen und haben unser Telefon benutzt. Die Gespräche waren auf bestimmte Dinge beschränkt. Man wusste auch, mit welchen Nachbarn man aufpassen muss, was man erzählt, weil die politisch sehr aktiv waren. Mein Vater war bei der Nationalen Volksarmee. Er hat sich nicht den Mund verbieten lassen und deswegen ist er unter Beobachtung gestanden. Von ihm gab es auch Polizeiakten und Geruchsproben, das heißt, er musste sich ein T-Shirt anziehen und das , das er eine Zeit lang tragen musste. Das wurde dann in Gläsern aufbewahrt, damit, wenn er irgendwas gemacht hätte, die Fährtenhunde ihn hätten finden können. Aber das sind alles Dinge, die ich erst später im Leben erfahren habe, weil ich damals zu jung war.

UNIpress: Mathias, wie hast du den Einfluss der Stasi auf die Menschen in der DDR wahrgenommen?

Mathias: Wir wussten, dass es die Stasi gab und dass die Menschen in der DDR unter Beobachtung waren. Als ich eine Woche in Ostberlin war, hatte ich ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. Einmal haben sie sogar versucht, uns eine Falle zu stellen. Da haben uns zwei auf der Straße angesprochen, weil sie wollten, dass wir Geld tauschen, denn der Umtauschkurs war inoffiziell 1:10, offiziell 1:1. Im Nachhinein haben wir dann erfahren, dass das Stasi-Spitzel waren und wenn wir da getauscht hätten, hätten sie uns wahrscheinlich eingesperrt.

UNIpress: Wie habt ihr beide die wirtschaftliche Lage in euren jeweiligen Ländern vor dem Mauerfall wahrgenommen?

Sandy: Bevor ich Westdeutschland zum ersten Mal gesehen habe, habe ich nicht wahrgenommen, wie kaputt die ganze Struktur war. Wir hatten ja auch ein kulturelles Erbe in der DDR, Städte wie Dresden und Ostberlin, wahnsinnig viele Museen und Kirchen, aber das war alles verfallen, weil kein Geld da war. Das haben wir erst richtig gemerkt, als wir nach Westdeutschland gekommen sind und einen Vergleich hatten. Wir durften davor ja nur in sozialistisch kommunistische Länder reisen. Die hatten das gleiche Problem. Sowas merkt man erst, wenn man sieht, wie es anders sein kann. Was ich gemerkt habe, ist, dass meine Eltern eigentlich mehr Freiheit wollten, dass sie eigentlich anders leben wollten. Da fängt man schon an zu hinterfragen.

Mathias: Bei uns in der Bundesrepublik gab es alles. In der DDR dagegen gab es viel weniger. Dort gab es nur das, was zugeteilt worden ist, und die Leute haben zum Teil sehr lange Schlange gestanden, um an die seltenen Güter zu kommen, die es sonst nicht gegeben hat. Aber das hat sie zusammengeschweißt, weil man sich gegenseitig geholfen hat. Im westlichen Kapitalismus ist das anders.

UNIpress: Mathias, was hat man als Außenstehender in den Jahren vor dem Mauerfall aus der DDR mitbekommen? ?

Mathias: Beginnend mit dem Milliardenkredit, den Strauß 1983 einfädelte, öffnete sich die DDR. Es gab dann auch Begegnungen auf politischer Ebene zwischen den Ländern. Das war vorher nicht denkbar. Auch der Drang nach Freiheit von all den Menschen, die dort lebten, wurde immer lauter. Man hat gemerkt, da ist was in Bewegung und das politische System in der DDR gerät ins Wanken.

UNIpress: Wie realistisch erschien euch damals die Möglichkeit, dass die Mauer eines Tages fallen könnte?

Sandy: Gar nicht. Für mich gar nicht. Bis Tschechien angefangen hat, die Grenzen nach Westen aufzumachen. Da haben wir erstmals gedacht, vielleicht geht das hier auch. Und dann ist es ja auch losgegangen. Es fing an mit den Montagsdemonstrationen hauptsächlich in Leipzig, Dresden und Berlin. Die Leute wollten eine Veränderung. Dabei ging es gar nicht um die DDR, sondern die Menschen wollten einfach nur mehr Freiheit. Es ging hauptsächlich um Reisefreiheit und Wahlfreiheit.

Mathias: Null. Ganz klar null. Das war undenkbar. Auch wenn westdeutsche Politiker gesagt haben, die Mauer muss weg – das war unmöglich, nach dem, was sie an Aufwand betrieben haben, um die beiden Länder zu trennen. Und das waren so grundverschiedene Systeme, dass es unvorstellbar war, dass das Land jemals wieder zusammenwächst.

UNIpress: Wie habt ihr den Mauerfall erlebt und welche Gefühle hattet ihr in diesem Moment?

Sandy: Für mich ist die Szene in Prag in der Botschaft, wo Genscher den Leuten die Ausreise erlaubt, der emotionalste Moment, den es damals gab. Wenn ich das heute noch im Fernsehen sehe, habe ich sofort Tränen in den Augen. In dem Moment hast du einfach gemerkt, ja, die Mauer geht auf.

Wir sind dann wirklich in der Nacht los, als Golodkowski die Rede hielt von der Reisefreiheit, die ab sofort gelten sollte. Meine Mama hat mich mitten in der Nacht geweckt, damit wir abhauen konnten. Ich kann mich nur noch ganz dunkel daran erinnern, dass das Einzige, was ich zu meiner Mama gesagt habe, war: Mama, ich hab doch morgen Rettungsschwimmen. 

Von der Nacht, wo der eigentliche Mauerfall war, habe ich nichts mitbekommen, weil wir da geflohen sind. Wir haben das erst hinterher erfahren und waren überwältigt. Es war natürlich auch sehr viel Angst mit dabei, weil wir nicht wussten, ob sie die Grenzen wieder dicht machen und ob wir jemals wieder in unsere Heimat zurück und unsere Verwandten wiedersehen können.

Mathias: Ich habe geweint. Ich hatte echt Tränen in den Augen, als ich gesehen habe, wie die Trabis über die Grenze gefahren sind und dann die ganzen Leute in Berlin über die Grenzen gestürmt sind. Ich habe mich so gefreut für sie. Am liebsten wäre ich nach Berlin gefahren und hätte mir das live angeschaut. Das war eine Sensation. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Klar, durch die Monate vorher mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig hat man schon irgendwann gedacht, wenn das jetzt noch mehr wird, dann gibt es entweder einen Aufstand oder die Armee knüppelt das nieder. Aber nachdem die Armee dann doch nicht eingegriffen hat, hat man sich schon gedacht, dass da vielleicht was Großes draus werden könnte.

UNIpress: Wie hat sich euer Leben in der ersten Zeit nach dem Mauerfall verändert?

Sandy: Ich kann mich noch an viele Stationen erinnern, weil man sich hier in Deutschland ja anmelden musste. Wir haben gesagt bekommen, wo wir hin müssen und was wir zu tun haben. Ich erinnere mich daran, dass ich mich gefragt habe: Warum lassen sie uns nicht einfach dahin, wo wir hinwollen? Dann habe ich noch die Erinnerung an den Konsum. Du gehst in ein Kaufhaus und da gibt es fünfzig verschiedene Seifen. Da gibt es dreißig verschiedene Brötchen. Alles ist bunt und alles duftet. Bei uns im Osten war alles sehr reduziert. Da gab es eine Kaufhalle, da gab es eine Sorte Brot und Brötchen und wenn man Glück hatte, gab es ein bisschen Gemüse und ein bisschen Obst. Die Auswahl im Westen war einfach überwältigend.

Mathias: Gar nicht. Es war nur auffällig, dass so viele Trabis durch die Gegend gefahren sind.

UNIpress: Welche Hoffnungen hattet ihr für die Zukunft nach der Grenzöffnung?

Sandy: Ich habe natürlich gehofft, dass wir hier schnell Fuß fassen und dass es für meine Eltern so wird, wie sie es sich erträumt haben. Und dass es uns besser geht. Und das ist tatsächlich so gekommen.

Mathias: Ich hatte die Hoffnung, dass ein geeintes Deutschland wieder einen höheren Status hat. Und dass das Land vernünftig zusammenwächst.  Leider ist das nicht der Fall. Es gibt heute immer noch Ost und West und eine Landflucht in den Westen.

UNIpress: Was war für euch persönlich die größte Herausforderung nach der Wiedervereinigung?

Sandy: Mich zurechtzufinden.  Vorher haben wir immer gesagt bekommen: Das ist die richtige Lebensweise, Sozialismus ist richtig, Kommunismus ist richtig, alles andere ist schlecht. Wenn du dann plötzlich völlig frei bist in allen deinen Entscheidungen, dann bist du erstmal total überfordert. Anfangs mussten wir auch oft umziehen und der Neuanfang war jedes Mal schwer, vor allem in der Schule.

Mathias: Für mich gab es keine persönlichen Herausforderungen. Es gab gesellschaftliche und politische Herausforderungen. Da habe ich gehofft, dass die beiden Länder friedlich und harmonisch zusammenwachsen. Es gab ja auch viele Dinge zu entscheiden, zum Beispiel welche Nationalhymne man nimmt. Außerdem habe ich gehofft, dass die ehemaligen DDR-Bürger gut behandelt werden. Sie hatten es am Anfang nicht leicht.

UNIpress: Wie habt ihr den Umgang der westdeutschen Bevölkerung mit ehemaligen DDR-Bürgern empfunden?

Sandy: Da gabs positive und negative Erlebnisse. Ich denke, dass viele Menschen Angst hatten vor der nächsten Welle an Fremden. Auch in meiner Schulklasse gab es viele Eltern, die zu ihren Kindern gesagt haben, mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Unsere Nachbarschaft in dem Ort, in dem wir anfangs gelebt haben, hat sich dann geöffnet. Sie haben gesagt: Hey, ihr seid fleißig, ihr habt euch was geschaffen.

Mathias: Als ich von Norddeutschland nach Bayern kam, hat es lange gedauert, bis ich akzeptiert wurde, aber als die Grenze dann offen war, waren wir Norddeutschen gar nicht mehr so schlecht. Jetzt waren es die ehemaligen DDR-Bürger, denen man mit Misstrauen und einer herablassenden Art begegnet ist. Die hatten hier am Anfang einen schweren Stand. Ich habe sie immer als sehr höfliche und freundliche Menschen kennengelernt.

UNIpress: Welche Bedeutung hat der Mauerfall für dich heute, 35 Jahre später?

Sandy: Ich bin froh darüber. Es war einfach unmenschlich, was in der DDR passiert ist: Trotzdem habe ich ein lachendes und ein weinendes Auge. Ich komme aus einem Land, das es nicht mehr gibt. Das macht mich ein bisschen traurig.

Mathias: Ich habe immer noch ein sentimentales Gefühl, wenn ich in den Osten fahre, an den ehemaligen Grenzübergängen vorbei, aber ich finde, das Thema Mauerfall ist in der Gesellschaft ein bisschen in Vergessenheit geraten. Ich finde  es wichtig, dass man das in Erinnerung behält.

UNIpress: Wenn du auf die vergangenen 35 Jahre zurückblickst, welche persönlichen oder gesellschaftlichen Veränderungen empfindest du als die wichtigsten? 

Sandy: Das ist so viel. Die Währungsunion finde ich gut. Auch, dass die EU so gewachsen ist, denn für mich bedeutet die EU Reisefreiheit. Für mich als ehemalige DDR-Bürgerin ist das Lebensqualität, weil ich weiß, wie es ist, eingesperrt zu sein. Und natürlich, dass ich jedes Mal, wenn ich meine ehemalige Heimat besuche, sehe, dass sich dort etwas verbessert.

Mathias: Was danach kam. Allgemeine Grenzöffnung durch das Schengener Abkommen. Und Frieden im Land.

 

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