Ist es dir schon einmal passiert, dass dir ein Freund oder eine Freundin of Color über einen Vorfall von Rassismus in ihrem Alltag berichtet haben und dein erster Impuls war es, ihnen nicht zu glauben? Mir schon. Gerade wenn wir solche Situationen nicht am eigenen Leib erfahren, fällt es uns schwer, sie glauben zu wollen. Weil wir es uns nicht vorstellen können, lehnen wir die Erfahrungen der anderen ab, relativieren sie oder versuchen sie zu legitimieren.
„Das war doch nicht wegen dir.“
„Das war sicher nicht so gemeint.“
„Das hast du sicher falsch aufgenommen.“
„Nimm es doch nicht so persönlich.“
Sind die ersten Reaktionen mit denen Personen, die von Rassismus im Alltag berichten, rechnen müssen.
Alltagsrassismus sichtbar machen
Die Instagramseite „wasihrnichtseht“ arbeitet daran, rassistische Angriffe sichtbar zu machen. Dabei können sich Menschen an die Seite wenden und von ihren Erfahrungen mit Alltagsrassismus im deutschsprachigen Raum berichten. Auf schwarzem Hintergrund mit weißem Text wird in kurzen Worten die Situation beschrieben. Eine kleine Fußzeile gibt Informationen über die Herkunft der Betroffenen.
Nachfragen und Zuhören
Interessant sind vor allem die Diskussionen, die sich in der Kommentarsektion unter den Posts abspielen. Dort finden rege Debatten der Follower statt. Während einige versuchen Situationen zu verstehen, reagieren andere schockiert. Manche berichten in den Kommentaren über ähnliche Erfahrungen oder drücken einfach nur ihren Unmut aus. Den wenigen „das hast du sicher falsch aufgenommen“, oder „das darfst du nicht persönlich nehmen“-Sagern wird erklärt, warum es wichtig ist, jede Erfahrung ernst zu nehmen und diese nicht zu relativieren. Gerade weil viele dieser Erfahrungen für uns unvorstellbar sind, ist es wichtig zu begreifen, dass sie für andere Teil des Alltags sind.
Empowerment und Social Media
Gestalten – Empowern – Inspirieren. So lautet der Untertitel der Seite „wasihrnichtseht“. Gerade auf Instagram steigt die Anzahl der Seiten, die ihren Schwerpunkt auf das Stichwort „Empowerment“ gelegt haben. Seiten wie feminist, chng oder rosa_mag kreieren zunehmend Inhalte, die Missstände in der Gesellschaft aufzeigen und kritisch hinterfragen.
Bin ich rassistisch?
“Wahrscheinlich”. So lautet die Antwort eines Artikels der Zeit-Reihe „Alltag Rassismus“. Dort werden 33 Fragen gestellt, die jeder für sich beantworten kann.
„Kannst du fluchen, Secondhand-Kleidung tragen, nicht auf Mails antworten – ohne, dass Menschen diese Entscheidung mit Sittenlosigkeit, Armut oder Faulheit verknüpfen?“
Fragen wie diese oder: „Fragst du Weiße beim Smalltalk nach ihren Großeltern?“, „Fühlst du dich von diesem Fragebogen angegriffen?“ oder “Denkst du, du bist nicht rassistisch, weil du einen Freund mit Migrationshintergrund hast?” rufen uns schmerzhaft unsere Privilegien in Erinnerung. Gerade deshalb ist es wichtig, uns diese Fragen zu stellen. Dabei gibt es keine „richtigen“ oder „falschen“ Antworten. Sie sollen uns lediglich den Spiegel vorhalten und zeigen uns, dass wir in dieser Gesellschaft eben nicht alle gleich sind.
Empathie als Werkzeug
Betrachten wir Statistiken, wissen wir mit den Zahlen meist wenig anzufangen. Die Arbeit von „wasihrnichtseht“ bedient sich dem Schlüssel der Empathie. Durch das Berichten von Erfahrungen aus der Lebensrealität Nicht-Weißer Personen in einer normativ weißen Gesellschaft, ist ein erster Schritt getan: Bewusstsein zu schaffen für die Existenz einer tiefgreifenden Problematik. Sie zeigen uns, dass unsere Lebensrealität eben nicht von allen geteilt wird.
„Von dem Gesindel haben wir genug da“
2015. Die Flüchtlingskrise beginnt, ISIS gewinnt an Macht und Einfluss ― die Zahl der Terroranschläge in Europa nimmt zu. Die Gemüter sind erhitzt, die Lage angespannt.
Ich gehe durch die Stadt, als mich plötzlich zwei Männer anschreien: „Verschwind dorthin wo du herkommst, du scheiß Gsindel“, brüllt mich der eine an. „Von deiner Sorte haben wir schon genug da“, grölt der andere hinterher. Mit jedem Satz, jedem Wort, jeder Beleidigung werde ich schwächer, fühle mich auf nichts als meine Hautfarbe reduziert, verliere die Kontrolle über meinen Körper und beginne ungehemmt zu weinen.
Später, als ich über die Situation in Ruhe nachdenken kann, fühle ich mich noch betroffener. Ich lebe bereits in der dritten Generation in Österreich und muss mich mit solchen Menschen, solchen Aussagen herumschlagen. Wie soll es dann erst Leuten gehen, die, anders als ich, einen ausländischen Namen und einen sehr dunklen Hauttyp haben?
Struktureller Rassismus
Reden wir von Rassismus, denken wir in erster Linie an zwischenmenschliche Interaktionen: An rassistische Beleidigungen oder Angriffe. Doch struktureller Rassismus ist viel weitreichender und schwieriger zu fassen. Er ist in unserer Gesellschaft und den ihr zugrunde liegenden Strukturen tief verankert. Diese einzelnen Vorfälle sind nur die Symptome eines kranken und rassistischen Systems. Auf den ersten Blick ist struktureller Rassismus unsichtbar. Er ist ein Teil dieser Ordnung, in der wir leben. Wir können ihn nicht erkennen und tendieren dazu, ihn zu leugnen oder zu relativieren.
Der multiplikative Charakter von Diskriminierung
Diskriminierungsmechanismen wirken multiplikativ und korrelieren miteinander. Faktoren wie Armut, sozialer Status, körperliche Gesundheit, sexuelle Orientierung, Sprachkenntnisse etc. verstärken einander. Sie verhindern, dass den Betroffenen ein Auskommen aus ihrer Situation ermöglicht wird. Zurück bleibt nichts, außer ein erdrückendes Gefühl der Machtlosigkeit.
Zahlen als Referenz
Da struktureller Rassismus schwierig zu erkennen ist, ist es wichtig, ihn sichtbar zu machen. Zahlen sind ein Weg dazu: 14 % der Schwarzen Menschen in Deutschland haben in den letzten fünf Jahren Erfahrungen mit „Racial Profiling“ gemacht. 37 % der amerikanischen Gefängnisinsassen sind schwarz. „Lehrer [und Lehrerinnen] in Deutschland sind dreimal so oft geneigt, ein Kind für das Gymnasium zu empfehlen, wenn es aus einer höheren sozialen ökonomischen Schicht kommt.
Meine Rolle im System
Der nächste Schritt nach dem Erkennen der Problematik ist es, sie zu verstehen, zu benennen und im größeren Kontext zu sehen. Was macht diese Erfahrungen möglich? Warum haben People of Color weniger Chancen am Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche oder im Schulsystem? Wieso spielt Herkunft oder Aussehen überhaupt noch eine Rolle? Wie kann es sein, dass wir uns immer und immer wieder den gleichen Fragen stellen müssen? Was ist meine Rolle im System?
Diffuses Schuldgefühl
Erschwert wird die Aufarbeitung des Rassismus durch ambivalente Gefühle und die Unzuordenbarkeit dieser. Das Anti-Diskriminierungsbüro in Köln listet Reaktionen von weißen Menschen, wenn sie mit rassistischen Strukturen konfrontiert sind. Dazu gehören: eine emotionale und aggressive Abwehrreaktion, Verneinung der Diskriminierung oder eigener Verstricktheit in eine Machtstruktur, Ambivalenz zwischen Nicht-Wissen und Wissen um Rassismus oder ein diffuses Schuldgefühl.
„Me and white supremacy“
Doch warum fühlen wir uns schuldig, wenn die rassistische Struktur des Systems offengelegt wird, sehen aber unsere Verantwortung nicht? Die Autorin Layla f. Saad arbeitet die Thematik in ihrem Werk mit dem Titel „me and white supremacy“ auf. Im Vorwort findet sich schon zum Teil eine Antwort auf diese Frage.
„While the racist status quo is comfortable for me […], challenging the racist status quo is not“.
Es wird betont, dass der Weg zur Aufarbeitung des rassistischen Status Quo, ohne „discomfort“ unmöglich ist. „In fact, racial discomfort is inherent to an authentic examination of white supremacy. By avoiding this discomfort , the racist status quo is protected.”
Verantwortung
Jeder hat eine Rolle im System. Jeder trägt Verantwortung. Verantwortung beginnt mit der kritischen Reflexion der eigenen Gedanken und Handlungen. Bei diesem Prozess helfen Fragen, die in dem Buch gestellt werden: Habe ich mich bewusst oder unterbewusst schon einmal besser gefühlt als People of Color? Hätte ich mich in dieser oder jener Situation anders verhalten, wenn diese Person nicht weiß gewesen wäre? Eine ehrliche Antwort auf diese Fragen ist wohl der erste Schritt zur Veränderung. Der erste von vielen.
You cannot dismantle what you cannot see.
You cannot challenge what you do not understand.– Layla F. Saad