Sex ist nicht so einfach, wie oft gemeint wird. Beziehung schon gar nicht. Dr. Claudia Wille-Helbich (60) weiß aus ihrer Sexualberatung und -therapie, dass viele kein explizites Wissen über Selbstbefriedigung, sexuelle Präferenzen oder gut ausgewogene sexuelle Gefälligkeiten in einer Partnerschaft haben – Alt ebenso wenig wie Jung. Sie haben gewisse Grundkenntnisse: Welches Geschlechtsorgan hat ein Mann, eine Frau? Wie entstehen Kinder? Wie verhütet man? Aber ein wirklich schönes, gesundes, befriedigendes Sexualleben haben sie nicht. Dazu fehlt es an Erziehung, Aufklärung und/oder Zugang zu guten Ressourcen. Schuld daran ist auch das Internet und alles, was damit verbunden ist.
UNIpress: Frau Dr. Claudia Wille-Helbich, mit wem ist Sex am einfachsten – Fremden oder Partner:innen?
Dr. Claudia Wille-Helbich: Schwer zu sagen. Sex mit einer Person, die einem nichts bedeutet, der man nichts beweisen will, verlangt manchmal weniger Mut. Aber in einer Partnerschaft weiß man, dass die Personen einen mag. Das kann Vertrauen einflößen. Es kommt ganz auf die Situation an. Aber: Schon das berühmte erste Mal ist meist mit Unsicherheit verbunden – übrigens auch ein Grund, warum viele das erste Mal stark alkoholisiert erleben beziehungsweise es “hinter sich bringen”.
UP: Bezieht sich das auf alle “erste Male” – also wenn man den/die Partner:in wechselt?
Wille-Helbich: Ja. Um auf Nummer sicher zu gehen, werden häufig Viagra, Cialis und so weiter “sicherheitshalber” bei den ersten sexuellen Annäherungen eingenommen. Ganz natürliche Unsicherheiten sollen vom Gegenüber ja nicht wahrgenommen werden. Da ist der Anspruch, “gut zu sein”, “zu funktionieren”, größer, als reelle Erfahrungen zu machen.
UP: Was ist unter “Sexualberatung” zu verstehen?
Wille-Helbich: Es ist eine Möglichkeit, sich in Fragen der Sexualität professionell Information und Anregung zu holen – sowohl als Einzelperson als auch als Paar. Dabei handelt es sich meist um wenige Sitzungen.
UP: Wann wäre längere Unterstützung nötig?
Wille-Helbich: Sogenannte “Sexualtherapie” braucht man erst, wenn Unsicherheiten schon zu Ängsten und weiter zu Vermeidungsverhalten geführt haben oder wenn der Sex nicht (mehr) lustvoll, sondern mühsam erlebt wird. Dann ist es sinnvoll, weiter zurückzugehen zu den bisherigen Erfahrungen, Glaubenssätzen und so weiter, um unbefriedigende in befriedigende Sexualität zu verwandeln. Normalerweise sind solche Klient:innen älter.
UP: Wie gehen Sie in einer solchen Situation vor?
Wille-Helbich: Der erste Schritt ist, nach Ursachen zu suchen und nach neuen Wegen, mit Unsicherheiten umzugehen. Das erfordert eine Bereitschaft, sich selbst zu beobachten und zu Hause mit speziellen Übungen zu experimentieren. Man muss sich auch dessen bewusst sein, dass Wandel immer ein prozesshaftes Geschehen ist. Ich begleite meine Klient:innen solange, bis die Weichen dauerhaft gestellt sind.
UP: Was motiviert jüngere Menschen, zu Ihnen zu kommen?
Wille-Helbich: Es gibt keinen großen Unterschied zwischen den Gründen selbst. Meist haben sich die Probleme bei Jüngeren aber noch nicht so stark manifestiert. Sie haben noch nicht so tiefe Muster entwickelt. Das macht es einfacher, ihnen zu helfen – ihre Anliegen können oft schnell gelöst werden. Allerdings suchen sie sich auch seltener Hilfe.
UP: Wie viele Kund:innen haben Sie in der Altersgruppe 18 bis 30?
Wille-Helbich: Wenige. Der Durchschnitt liegt eher bei 40 Jahren.
UP: Warum das?
Wille-Helbich: Viele Teenager/Mit-Zwanziger:innen wissen nicht, was sie nicht wissen. Das Internet gibt ihnen die Illusion, gut informiert zu sein. Sie googeln oder posten ihre Fragen in Foren und betrachten die Antworten, die sie erhalten, als professionell. Die Realität ist, dass online viele Fehlinformationen verbreitet werden. Meinungen werden als Fakten verkauft. Und es gibt viel zu viel – ungeprüftes – Lesematerial, um überhaupt zu verarbeiten, was zuverlässig ist. Man wird bombardiert. Was wiederum zu Verwirrung führt und zu allen möglichen anderen Problemen…
UP: Zum Beispiel?
Wille-Helbich: Überreizung. Junge Menschen, vor allem Männer, ersetzen reelle Erfahrungen immer mehr mit geschauspielerten Bildern und Filmen – also Pornos – was zu immer mehr unrealistischen Erwartungen führt bezüglich Penisgröße, Ausdauer, Kraft, aber auch in Bezug auf sexuelle Handlungen.
UP: Was sind die häufigsten Folgen?
Wille-Helbich: Lustlosigkeit, Erektions- sowie Ejakulationsstörungen.
UP: Wie kann man dagegen steuern?
Wille-Helbich: Entwöhnung vom Porno-Konsum.
UP: Gibt es so etwas wie gesunden Porno-Konsum?
Wille-Helbich: Meiner Meinung nach: nein. Ich bin wirklich keine Porno-Basherin. Ich habe kein moralisches Problem damit. Aber ich sehe halt die Konsequenzen und es tut mir einfach alles so leid.
UP: Also kalter Entzug?
Wille-Helbich: Ja – was nicht Masturbationsverzicht heißt. Masturbation ist wichtig, um sich selber sexuell kennenzulernen, sowohl für Frauen als auch für Männer. Ich empfehle meinen weiblichen Klientinnen allerdings, Vibratoren wegzulassen. Sie müssen ihren eigenen Körper kennenlernen und sich nicht vor dem Gefühl oder Geruch ihrer eigenen Vagina scheuen. Und männliche Klienten, die sich an das Gefühl ihrer eigenen dominanten Hand gewöhnt haben, können es mit mal mit ihrer nicht-dominanten Hand, Öl oder einem Handschuh probieren. Damit ihr Gehirn neu verdrahtet werden kann, um wieder echten Sex mit einer echten Person zu genießen.
UP: Wie stehen Sie zu “realistischeren” Pornos, die eher “normal” aussehende Menschen in der Hauptrolle und romantischere Handlungsstränge haben?
Wille-Helbich: Sie sind besser, aber sie sind immer noch Pornos: Szenarien, nicht Realität. Deren übermäßiger Konsum führt genauso zu Dopamin-Ausstößen, an die man sich mit der Zeit gewöhnt und die man mit einem einzelnen Partner nicht “replizieren” kann.
UP: Können Sie das erläutern?
Wille-Helbich: Stellen Sie sich vor: Sie essen in allen Restaurants der Stadt alle Gerichte gleichzeitig – gut und schlecht. Wenn Sie sich einfach alles ins Gesicht stopfen, können Sie ja gar nicht mehr zwischen den Geschmäckern unterscheiden. Sie müssen sich eine “Speise” aussuchen und sich Zeit nehmen, um sie zu genießen.
UP: Was ist mit Menschen, die bereits keine Pornos konsumieren, aber immer noch Probleme mit ihrer Sexualität haben?
Wille-Helbich: Aller Wahrscheinlichkeit nach konsumieren sie einfach zu viel von einer anderen Art von Stimulanzien. Wie zum Beispiel soziale Medien. Bei Frauen ist das häufig der Fall.
UP: Was ist das Problem mit sozialen Medien?
Wille-Helbich: Dank des hohen Ausmaßes an Models, die schwerst bearbeitete Fotos online stellen, besteht ein Druck, nach gängiger Meinung perfekt zu sein. Immer mehr Frauen lassen sich daher auf Brustoperationen, Schamlippenkorrekturen und Analbleichungen ein.
UP: Ein kalter Entzug von Instagram wäre für die meisten aber nicht denkbar, oder?
Wille-Helbich: Nein. Wir sind zu angewiesen auf solche Plattformen. Aber wir könnten alle einen gesünderen Umgang damit lernen. Auch wenn man meint, nicht leicht beeinflussbar zu sein, bleibt beim Internetbrowsen immer etwas hängen.
UP: Hilft es, ein Mindestalter für Konten einzuführen?
Wille-Helbich: Absolut. Wo da die genaue Abgrenzung sein sollte, ist schwierig zu sagen. Menschen, die erst später im Leben mit Social Media konfrontiert werden, gehen aber nachweislich besser mit den Inhalten um.
UP: Unterscheiden sich die konkreten Folgen von Überreizung für Frauen stark von jenen für Männer?
Wille-Helbich: Nein. Lustlosigkeit oder Erregungsprobleme sind ebenso Themen für Frauen wie für Männer, aber die konkreten Gründe sind unterschiedlich.
UP: Zum Beispiel?
Wille-Helbich: Leider haben viele Frauen immer noch ein schlechtes Verhältnis zu ihrem Körper. Manche haben sich noch nie selber berührt, was zu einer schlechten Kommunikation mit ihren Partner:innen führt. Wie sollen sie erklären können, was ihnen gefällt, wenn sie noch nie experimentiert haben?
UP: Das heißt?
Wille-Helbich: Sich selber kennenlernen. Mit seinem Körper “spielen”. Mit der Vagina, aber nicht nur. Wichtig ist zum Beispiel auch Brust- und Nippelstimulation. Und den/die Partner:in einladen, Dinge zu zweit auszuprobieren – von Massagen und Rückenkraulen, Lippenbeißen und Haareziehen, bis hin zu Spanking, Choking und anderen “Kinks”. Ein Mann kann sich schließlich nicht einfach in den Körper einer Frau einfühlen. Frauen müssen mit ihnen reden.
UP: Warum fällt das vielen so schwer?
Wille-Helbich: Frauen sind häufig verunsichert, dass sie nicht schnell kommen können. Sie denken sich: “Das ist ja Arbeit, der Arme.” Das ist eine Denkweise, die sie “überwinden” müssen. Vor allem, weil es vielen nichts ausmacht, sich Zeit für die Partnerin und deren Befriedigung zu nehmen. Das ist auch “Arbeit”. Heißt ja nicht umsonst BlowJOB.
UP: Nimmt die Selbstentdeckungsbereitschaft der Frauen, Ihrer Erfahrung nach, zumindest zu?
Wille-Helbich: Puh. Ich denke, die Prävalenz stagniert.
UP: Wie erklären Sie sich das?
Wille-Helbich: Schlecht. Doch Sie müssen bedenken, dass die ohne Problem nicht zu mir kommen. Wahrscheinlich ist es immer noch eine Frage von Aufklärung.
UP: Wer ist für die Aufklärung zuständig?
Wille-Helbich: In erster Linie die Eltern. Und das beginnt nicht in der Pubertät, sondern schon mit 3-4 Jahren.
UP: Und in zweiter Linie?
Wille-Helbich: Schulen. Am besten wäre, wenn diese Sexualpädagog:innen einladen würden, um mit den Kindern beziehungsweise Teenagern zu reden. Das wäre für alle weniger “peinlich”. Wer will denn mit 12 bis 16 mit seinen üblichen Bezugspersonen über Sex reden?
UP: Was würden Sie von Pflichtliteratur zum Thema halten?
Wille-Helbich: Wenn man sowas einführen könnte, wäre das super. Nicht nur Sachbücher wären da gut. Auch Erotikliteratur. Denn so etwas wie “Bravo” – womit ich aufgewachsen bin – gibt es heutzutage nicht mehr. Grundsätzlich liest heute so gut wie keiner mehr. Dabei bringt das enorm viel.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der März-Ausgabe 2022.