Die (un)endliche Geschichte

von Laura Klemm
Lesezeit: 3 min
Im Jahr 1989 prophezeite der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte: Die Menschheit hätte nun ihre letzte Entwicklungsstufe erreicht. 2024 sieht das anders aus.

Das Ende der Geschichte – dieses Ereignis proklamierte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in seinem Essay „The End of History“ im Sommer 1989. Der Artikel löste eine regelrechte Kontroverse aus. Er verkaufe sich besser als Pornografie, soll ein Zeitungsverkäufer der New York Times berichtet haben. Während manche infolge der Veröffentlichung in Fukuyama eine Art Prophet sahen, unterstellten ihm andere wiederum die Verherrlichung des Kapitalismus – und einzelne waren schlichtweg verängstigt. 

Dass eine Begrifflichkeit wie das „Ende der Geschichte“ starke Regungen und Reaktionen hervorruft, ist dabei jedoch nur allzu verständlich: Zu oft schon haben Fantasien über Weltenden und -untergänge Schlagzeilen dominiert. Wenn Fukuyama aber vom Ende der Geschichte spricht, dann – so betonte er nachdrücklich im Jahr 2019 – nicht vom Ende der Welt.

Keine weiteren Fragen mehr 

Für Fukuyama endet die Geschichte gegen Ende der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts, da in dieser Zeit etwas Fundamentales geschieht: Die Mauer fällt, die Sowjetunion zerbricht. Nach Zeiten von wahlweise absolutistischem, faschistischem, bolschewistischem oder marxistischem Bestreben und dem Beinahe-Ende der Welt durch eine nukleare Katastrophe sei nun in weiten Teilen der Welt der Frieden zum Greifen nah. Die Weltgeschichte habe einen „Full Circle“ beschrieben und die liberale Demokratie sich als beständige Ideologie und einzig funktionierende Regierungsform bewiesen. Der Sieger im Kalten Krieg: der Westen und seine Ideologie des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus. Diese würde sich nun ausbreiten.

Das Jahr 1989 markiere damit nicht nur das Ende des Kalten Krieges, sondern auch das Ende der Menschheitsgeschichte: Nach Fukuyama kann nun kein weiterer Fortschritt in der Entwicklung grundlegender Prinzipien und Ideologien erfolgen – alle großen Fragen seien abschließend geklärt. Wenn Fukuyama also vom Ende der Geschichte spricht, dann vom Ende der Weiterentwicklung der menschlichen Lebens- und Organisationsformen, von einem endgültigen Zustand, der gleichzeitig auch Ausdruck eines Endziels ist.

Vorstellung versus Realität

Ist für Fukuyama die liberale Demokratie das Erfolgsmodell, so sind Faschismus und Kommunismus ihre ärgsten Herausforderer. Im Jahr 1989 schätzte Fukuyama totalitäre Systeme jedoch als begrenzt gefährlich ein, da sie zwecks mangelnder Legitimation nicht haltbar seien und dadurch zwangsläufig erodieren würden. Diese Einschätzung bemängelten Kritiker:innen schon bei der Veröffentlichung des Artikels als zu optimistisch. Heute räumt Fukuyama dies selbst ein.

Viele Kritiker:innen stufen Fukuyamas Beschreibung des Kapitalismus außerdem als quasireligiöse Verklärung ein. Die liberale Demokratie mit ihrer freien Marktwirtschaft sei instabil: Es gebe zu viel Leid und Ungleichheit; die Welt sei unterteilt in Gewinner:innen und Verlierer:innen. Zudem sei der Westen nicht an einer Demokratisierung des globalen Südens interessiert. Das aktuelle Weltgeschehen zeige auch: Autoritäre Staatengebilde wie China und Russland sind modernisiert und wieder erstarkt – trotz mangelnder Demokratie. Religiöse fundamentalistische Ideologien und ihre Vertreter:innen seien außerdem nicht nur widerständig, sondern würden teils auch weltanschauliche Alternativen zur liberalen Demokratie darstellen. Denn die moderne liberale Demokratie biete zwar wirtschaftlichen Erfolg, aber keine Gemeinschaft. Sie trage nicht zur Identitätsbildung bei, wie es etwa Religionen und nationalistische Ideologien tun. Die Kritiker:innen verweisen außerdem auf das aktuelle Weltgeschehen wie den Klimawandel oder die COVID-19-Pandemie: Kaum größer könnten die aktuellen Fragestellungen sein, kaum dringlicher geeignete Lösungsansätze.

Zeiten des Aufruhrs?

Am Ende seines Essays aus dem Jahr 1989 äußert sich Fukuyama etwas deprimiert über das nahende Ende der Geschichte: Langweilige Zeiten stünden bevor. Das Ende der Geschichte sei auch eine traurige Zeit. Teils ironisch, teils ernst schreibt Fukuyama, er trauere den Zeiten nach, als Individuen ihr Leben für abstrakte Ziele und Ideologien riskierten – und zeigt sich nostalgisch über die „Zeiten der Geschichte“, deren Ende er proklamiert. Er meint auch: Es bestehe alternativ die Möglichkeit, dass die bevorstehenden langweiligen Zeiten einen Katalysator darstellen – für die Weltgeschichte, für Ideen und Ideologien.

Dreißig Jahre später veröffentlicht Fukuyama noch immer Essays und Bücher. Journalist:innen steht er in Interviews Rede und Antwort. Mit ihnen spricht er unter anderem über den Angriffskrieg auf die Ukraine. Das aktuelle Geschehen sei lediglich ein „Rocky Patch“ in der Weltgeschichte. Doch ob nur steiniges Stück oder anhaltender Trend: Die Geschichtsschreibung läuft weiter, und wir mit ihr mit.

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