Haltung zeigen: Moderne Spiritualität

von Laura Klemm
Lesezeit: 7 min
Was verleiht dem Leben Bedeutung? In der westlichen Welt begeben sich immer mehr Menschen im Zuge dieser Frage auf spirituelle Sinnsuche – und werden in Südasien fündig. 

Auf meinem Nachttisch glimmt ein Räucherstäbchen, währenddessen blättere ich in meiner zerfledderten Ausgabe von Hermann Hesses Roman Siddhartha, versehen mit zahlreichen Eselsohren und neongelb leuchtenden Markierungen. Wie auch heute begleite ich fast jeden Abend den Protagonisten Siddhartha auf seiner Suche nach der Erkenntnis. An einer Stelle heißt es: „Finden aber heißt: Frei sein, offenstehen, kein Ziel haben.“ Ich greife nach meinem Bleistift und unterstreiche Siddharthas Weisheit. Zweifellos, auch bei mir treffen spirituelle Lehren einen Nerv.

Buddhas und Berge

In den darauffolgenden Wochen treffe ich, wohin ich auch gehe, auf Abkömmlinge moderner Spiritualität. Auch in Innsbruck scheinen Jahrtausende alte spirituelle Praktiken beliebt zu sein, aus der buddhistischen Welt in die alpin-urbane Szene überführt. Plötzlich fallen mir Yogastudios auf, und aus diversen Schaufenstern blicken mir Buddha-Köpfe entgegen. Eines Morgens stelle ich fest, dass sogar in Buchhandlungen Räucherstäbchen angeboten werden. Die Aufschrift „Holy Smokes“ lässt mich kurz schmunzeln.

Nach zwei Wochen intensiver Konfrontation mit Praktiken wie Yoga, Meditation und Manifestation in Innsbrucks Altstadt, aber vor allem in den sozialen Medien, sitze ich eines Abends auf einer grünen Matte im Pulverturm. Es ist meine erste Yogastunde, die ich nicht eingequetscht zwischen Möbeln und Wäscheständern vor meinem Laptop verbringe. Im Hintergrund läuft ruhige Musik, die angenehme Stimme der Kursleitern leitet uns Teilnehmer:innen von einer Position in die nächste. „Heute arbeiten wir intensiv daran, in den Spagat zu kommen.“ Nach mehreren sanften Haltungen liege ich in der unerwartet anstrengenden Taube, auf Sanskrit Eka Pada Rajakapotanasana, und bin versucht, aufzugeben. Intensiv arbeiten? Eigentlich möchte ich mich entspannen, und das möglichst ineffizient.

Auf dem Nachhauseweg finde ich mich in einem Zwiespalt wieder. Zwar fühle ich mich nach der Yogastunde zufrieden und ausgeruht. Ich habe Gefallen daran, meine Fensterbank mit tibetischen Gebetsfahnen und Räucherstäbchen zu zieren und merke, dass ich Interesse an spirituellen Lehren habe. Dennoch frage ich mich, obund wenn ja, wieich Teil dieser Lehren sein kann und darf. Denn im Laufe meiner Fahrradfahrt fällt mir auf, dass ich mich ohne großes Wissen vieler Praktiken und Produkte bediene, die nicht dem Kulturkreis entstammen, aus dem ich komme. Außerdem liegt es mir am Herzen, spirituelle Erfahrungen zweckfrei und fernab von Selbstoptimierung zu erleben, und in Konsumfallen möchte ich auch nicht tappen. Überforderung überkommt mich.

Eine persönliche Reise

Darüber spreche ich mit meiner Freundin Madita. Seit Beginn der Covid-Pandemie widmet sie sich regelmäßig verschiedenen Yogastilen und der Chakra-Meditation. Zusätzlich manifestiert sie von Zeit zu Zeit und probiert gerne Ausgefalleneres, wie sie sagt. Motiviert fühlt sie sich dabei durch ihr nahestehende Personen, darunter auch ihre Großmutter. Vor allem ist Madita sehr neugierig und rät mir daher, am Anfang mit viel Wissbegierde und der Bereitschaft, Verschiedenes auszuprobieren, an die spirituellen Praktiken meiner Wahl heranzugehen. Erst einmal reiche es, zu schauen, wofür ich mich öffnen und womit ich umgehen könne. Ihrem Eindruck nach passiere die Weiterbildung oft von ganz allein. Im vergangenen Sommer ist sie etwa für einen Monat durch Nepal gereist. Dort konnte sie viel über den Buddhismus und die nepalesische Kultur lernen. Besonders habe sie fasziniert, wie die Menschen dort aufeinander achteten.

Im Laufe des Gesprächs wird deutlich, dass für Madita Spiritualität etwas sehr Persönliches ist, das fernab von Instagram und Konsumzwang existiert: „Yoga hat für mich wenig mit Handständen und krassen Verbiegungen zu tun.“ Vor allem Meditation sei ein innerlicher Prozess, sich selbst zu hören, auf sich selbst zu achten und wirklich zu fühlen. In dieser spirituellen Praktik finde sie ihre Hoffnung und ihre Bestärkung. Als ich auflege, fühle ich mich ermutigt. Während ich mich von Beiträgen in den sozialen Medien und von gehypter, als Produkt verpackter Spiritualität eingeschüchtert gefühlt habe, motiviert mich Maditas Idee, viel auszuprobieren und ganz zwanglos herauszufinden, was mir gefällt.

(K)eine Frage der Haltung

Meine tibetischen Gebetsfahnen im Blickfeld finde ich mich wenige Tage später dennoch in den Tiefen des Internets wieder, begründet in meinem Glauben, dass auch mein privater persönlicher Raum letztendlich ein politischer ist. Dieser Gedanke steckt auch hinter der Initiative [kursiv_anfang]Yoga ist politisch[kursiv_ende]. Sie tritt dafür ein, dass innerhalb der Yogaszene zu aktuellen Themen verstärkt Haltung bezogen wird. Laut den Gründerinnen soll die spirituelle Szene, allen voran die Yogaszene, anerkennen, dass der spirituelle Raum nicht außerhalb unserer Zeit und deren Probleme existiert. Außerdem sehen sie sich in der Verantwortung, ein diskriminierungssensibles Netzwerk in der Yogaszene zu schaffen. Auf ihrer Website findet sich eine Auflistung verschiedener Anliegen, darunter der Kampf gegen Klassismus, Kapitalismus, Bodyshaming, Leistungsdruck und der Kampf für mehr Sensibilisierung in Bezug auf die Debatte rund um kulturelle Aneignung. Gleich am Anfang heißt es, Yoga sei (k)eine Frage der Haltung. Wie Madita vertritt die Initiative die Ansicht, Yoga drehe sich nicht nur um komplizierte Positionen und Haltungen – anders als vielerorts dargestellt. Eine politische Haltung setzen sie allerdings voraus.

Besonders über den Begriff der kulturellen Aneignung stolpere ich beim Lesen häufig. Gerade vor dem Hintergrund des (Post-)Kolonialismus sollte sensibel damit umgegangen werden, dass spirituelle Praktiken aus Minderheitskulturen hinaus in unseren westlichen Kontext hinein überführt wurden und werden, finden viele Yogi:nis. Institutionen reagieren auf die Problematik, so beispielsweise die Universität der kanadischen Hauptstadt Ottawa. Wie die indische Zeitung „The Times Of India“ im Jahr 2018 berichtet, strich die Universität aufgrund von Stimmen aus der Student:innenschaft die Yogakurse aus ihrem Sportangebot. Auch Podcast-Folgen des Podcast „Yoga Is Dead“, darunter die Folge „White Women Killed Yoga“, entfachen lebhafte Diskussionen, polarisieren und erhalten dabei online viel Zuspruch. Andere sehen modernes Yoga dagegen als globale Innovation. Eine von ihnen ist die indische Wissenschaftsphilosophin Meera Nanda.

Traditionelle Lehren, moderne Medien

Im englischsprachigen Raum ist die Diskussion um die Überführung traditionsreicher Praktiken in den modernen Kontext und die einhergehende (starke) Adaption bereits fester Bestandteil des öffentlichen Diskurses. Doch auch in den deutschsprachigen Medien geraten Influencer:innen und Unternehmer:innen vermehrt in den Fokus der Medien. Darunter Cathy Hummels, Person des öffentlichen Lebens mit siebenhunderttausend Abonnent:innen auf Instagram. Im Juli 2022 lud sie Deutschlands populärste Influencerinnen zu dem Entspannungsprogramm Strong Mind Retreat ein. Laut Hummels kann die mit Yoga, Meditation und einer großen Portion Vitamin D gespickte Kurwoche Depressionen heilen. Dass es sich in Wahrheit um eine groß angelegte Werbeaktion handelt, wird mir spätestens in dem Moment klar, als ich die zahlreichen Produktplatzierungen entdecke. Anscheinend lassen sich psychische Krankheiten mithilfe von ein paar Asanas, also Yoga-Posen, der passenden Tischdeko und den neusten Stand Up Paddels schneller heilen. „Let’s focus on mental health“, schreibt Cathy Hummels also auf Instagram – und posiert am griechischen Strand, das Gesicht der Sonne entgegengestreckt.

Wieder richtet sich mein Blick auf meine bunten Wimpel, die kunstvoll mit buddhistischen Mantras bedruckt sind und im Licht der tiefstehenden Sonne leuchten. Ich bin keine Buddhistin, und einen Fuß habe ich bisher weder auf nepalesischen noch auf tibetischen Boden gesetzt. Eine millionenschwere Industrie möchte ich nach Möglichkeit nicht unterstützen. Nehme ich mir ein Beispiel an den Kanadiern und setze meine Suche nach der Erkenntnis anderenorts fort? Hänge ich meine Gebetsfahnen ab? Und wie meditiere ich in Zukunft? Gar nicht? 

Ein Problem ohne Lösung

Wie so oft gibt es vermutlich keine allgemeingültige Antwort. Ich beschließe, dass sich mein Weg sowohl an Maditas Rat als auch am öffentlichen Diskurs orientieren soll. Am Morgen übe ich mich am Sonnengruß, blättere in „Siddhartha“ und zünde weiterhin meine Räucherstäbchen an. Ich mache Atemübungen, wenn ich gestresst bin oder einfach Lust darauf habe. Die Gebetsfahnen hänge ich eines Vormittags mit dem Vorsatz ab, sie dann wieder aufzuhängen, wenn ich das Gefühl habe, einen ausreichenden Wissensstand erreicht zu haben. Am Abend wage ich mich bald daran, mich mit der Kritik der Podcast-Folge „White Women Killed Yoga“ selbst zu konfrontieren. Von vielen Aussagen fühle ich mich angegriffen. Die indisch-amerikanischen Gastgeberinnen des Podcast laden die Zuhörenden zur Reflexion ein: Wieso sollte ihr Ärger legitimer sein als die Wut der betroffenen Menschen, deren Praktiken vom westlichen Kulturkreis übernommen werden? Ich merke mir Bücher und Dokumentation vor, mithilfe derer ich mich informieren möchte.

Die Vielfalt der Wege, wie mit moderner Spiritualität im westlichen Kontext umgegangen werden kann, ist groß. Wo der persönliche Raum endet und der politische beginnt, muss jede:r für sich selbst entscheiden. Meine individuelle Lösung habe ich vorerst gefunden: ausprobieren, lernen, reflektieren und hören – auf mich selbst und auf andere.

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