Toxisch, narzisstisch und gegaslightet: die Vokabeln der modernen Küchenpsychologie

von Jule Pichler
Lesezeit: 5 min
Halb-ironische Selbstdiagnosen und Gruppentherapie in der Raucherpause: Was hinter der inflationären Verwendung psychologischer Buzzwords wirklich steckt und wieso wir uns zu diesen so hingezogen fühlen.

Vom narzisstischen Exfreund traumatisiert, depri durch die graue Jahreszeit und von den Urlaubsposts auf Instagram getriggert. Die Beschreibung einer Generation, die endlich Gefühle enttabuisiert?

Hat Testedich.at einen um das Wissen des eigenen Persönlichkeitstyps bereichert, würden wir jenen am liebsten auf unsere Visitenkarte schreiben. Die menschliche Psyche ist ein Schlaraffenland für die neue Generation an Hobbypsychologen und Freizeittherapeuten. Stets auf der Suche nach einer Diagnose für die Eigenarten, die wir an den Tag legen. Psychologische Begriffe haben ihren Weg in unseren Sprachgebrauch gefunden.

Die traumatisierte Gesellschaft

Prince Harry betreibe Trauma-Dumping, witzelt Twitter-User H4TEDEMON

Kindheitstrauma, Beziehungstrauma, transgenerationales Trauma, religiöses Trauma, verkörpertes Trauma: Bei der wachsenden Auswahl an produktiven Nomen und Adjektiven, die vor das Wort “Trauma” gestellt neue Buzzwords bilden, kann ein jeder und eine jede von uns sich sein oder ihr ganz persönliches Trauma selbst diagnostizieren. Neben diesen individuellen Beschreibungen gibt es aber freilich auch noch kollektive Traumata, denn vom Sportunterricht in der Schule sind wir sowieso alle schwer geschädigt. Aber Achtung: Teilt man seine prekäre seelische Lage unaufgefordert, macht man sich des Trauma-Dumpings schuldig.

Ursprünglich ein Begriff für eine schwere Wunde der Seele nach schlimmen Erlebnissen wie Unfällen, Missbrauchs- oder Gewalterfahrungen ist Trauma für manche zum schneidigen Begriff für alles, was in einem Leben je schief lief, geworden. Ist das den Überlebenden sexueller Gewalt, den Opfern von Naturkatastrophen würdig?

Zwei Punkte. Einerseits obliegt jedem Menschen das Einordnen seiner eigenen Erfahrungen. Was für einen Menschen in einem bestimmten Kontext schlimm oder gar traumatisch sein kann, kann ein anderer nicht beurteilen. Es ist keine Aufgabe der Öffentlichkeit, Erlebnisse auf die Goldwaage zu legen und dem Schweregrad nach zu ordnen, um diejenigen zu bestimmen, die ein Trauma für sich beanspruchen dürfen. Andererseits ist Trauma letztendlich ein medizinischer Begriff, der durch einen lockeren Umgang im Alltag an Schärfe einbüßen kann, wodurch echte Traumata womöglich unerkannt bleiben oder gar weniger ernst genommen werden.

Todesangst durch Kaugeräusche

„Dein lautes Kauen triggert mich.“ Kaugeräusche sind nervig. Die Missgunst, welcher wir durch solche Aussagen Ausdruck verleihen, transportieren wir mit einer Prise Humor. Das Gegenüber lacht über den überspitzten Erguss unserer Gefühlswelt. Die Message ist dennoch angekommen. Jedoch, und das ist uns selten bewusst, ist der Trigger in der Psychologie eine Beschreibung von stark negativen Erinnerungen oder Gefühlen durch eine vergangene oder immer noch andauernde unangenehme Erfahrung. Oft reicht nur ein Geruch als Schlüsselreiz, um in einen Zustand der Panik zu verfallen. Herzrasen, Todesangst oder gar Ohnmacht können die Betroffenen ereilen. So findet der Trigger als psychologisches Phänomen seinen Weg in unseren Alltags-Slang Gebrauch.

You’re toxic, I’m slipping under

Ist die eigene Psyche erschöpfend diagnostiziert, wenden wir uns unseren Mitmenschen zu. Emotional noch verletzt von der Trennung von dem Exfreund wird die Schuld geschwind auf diesen abgeladen. Den Groll, den wir hegen, verbalisieren wir nun, indem wir ihn als einen toxischen Narzissten verdammen. Britney Spears befeuert in ihrem Song „Toxic“ den Thrill, welchen eine Liebschaft mit Machtgefälle in der unterworfenen Person auslösen kann. Spannend klingt das besungene Spiel um Macht und Unterwerfung, doch sind die realen Auswirkungen einer solchen Beziehung weniger glamourös. Abhängigkeit, Kontrolle, grenzüberschreitende Herabwürdigung und Manipulation sind als unschöne Folgen zu verzeichnen.

Das psychologische Phänomen toxischer Beziehungen wird häufig glorifiziert oder das Attribut im Affekt zu leichtfertig vergeben. Dies könnte die real existierenden Probleme in Beziehungen bagatellisieren oder gar beschönigen.

Gaslighting: Treiben uns Notlügen wirklich in den Wahnsinn?

Gaslighting bezeichnet eine Art der psychischen Gewaltausübung, bei der ein Opfer so stark belogen, manipuliert und in der eigenen Wahrnehmung verunsichert wird, dass es an seinem eigenen Verstand zu zweifeln beginnt und sich wahnsinnig glaubt. Zunehmend wird das Wort aber auch für Alltagslügen oder abweichende Wahrnehmungen derselben Situation verwendet.

Gebraucht wird der Begriff zunehmend häufig von Menschen, die sich beispielsweise in einer Beziehung durch die Handlungen des Partners verletzt sehen, während dieser aber sein angebliches Vergehen nicht einsieht. Dabei werden sie aber meistens nicht “gegaslightet”, sondern eher invalidiert. Diese Invalidierung, das Nicht-Ernst-Nehmen von Gefühlen, kann sehr schmerzhaft sein, ist jedoch im Gegensatz zum Gaslighting nicht (notwendigerweise) missbräuchlich. Und wer sich etwas vormacht, gaslightet sich nicht selbst, sondern will wohl die Realität einfach nicht akzeptieren.

Foto: iaml1979 auf TikTok

Wirkliches Gaslighting erschüttert und destabilisiert die Opfer hingegen massiv. Sie halten sich oft für verrückt, weil ihnen beispielsweise weisgemacht wird, sie hätten Dinge getan oder gesagt, die nie passiert sind. Eine kleine Alltagslüge oder das Rechtfertigen der eigenen Prokrastination ist damit nicht vergleichbar.

Woher die Besessenheit?

Wieso werfen Menschen also mit Fachbegriffen um sich, die so schwerwiegende psychische Zustände beschreiben? Einerseits versprechen Wörter wie Trauma oder toxisch einen gewissen Komfort: Sie geben den Menschen, die sie benutzen, Recht. Und vielleicht ist ja etwas dran; vielleicht war der Ex-Partner wirklich nicht gut für einen; vielleicht hat ein schlechtes Erlebnis in der Vergangenheit tatsächlich Spuren hinterlassen. Ob es nun wirklich ein Trauma war, macht aus subjektiver Sicht wenig Unterschied für die Menschen, die es erlebten.

Außerdem wären diese Begriffe nicht die ersten, deren semantische Grenzen wir zugunsten einer bewussten (oder unbewussten) Übertreibung dehnen. Und vielleicht fehlen uns auch teilweise einfach die Worte, um unsere Gefühle und Erlebnisse gezielt und präzise auszudrücken, ohne auf extremere Begriffe zurückgreifen zu müssen.

Zuletzt könnte sogar die Geschichte der Zivilisation etwas mit dem Gebrauch dieser Begriffe zu tun haben: Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat sich die Art und Weise, wie wir die Welt verstehen, gewandelt. Wir sind vom Mythos zum Logos übergegangen, erklären uns die Welt jetzt also primär durch Wissenschaft und Logik statt durch Geschichten und Mythen. Doch wir haben wohl kaum alles Erzählerische und Mythische abgelegt, sind keine perfekt rationalen Maschinen. Vielleicht ist es ein Merkmal des Zeitgeists, dass wir wissenschaftliche Begriffe nutzen, um uns subjektive Geschichten über uns selbst und andere zu erzählen. Wir hüllen unseren Mythos in ein logisches Gewand, wir verbreiten Gossip im Laborkittel.

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