Zahlen lügen nicht? – Der Fall O. J. Simpson

von UNIpress
Lesezeit: 5 min
Nach Leonard Courtney soll es drei Arten von Lügen geben: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken. Ein Doppelmord, Piraten, Hai-Angriffe und die Achtsamkeit beim Lesen und Interpretieren von Daten aus der empirischen Sozialforschung.

Der “Jahrhundertprozess” um O. J. Simpson spaltete Amerika, bescherte den Verteidigern Honorarnoten in Millionenhöhe und erinnerte an eine Seifenoper, nicht zuletzt wegen Zeuginnen, die sonst für den Playboy posierten. Bei der Liveübertragung des Urteils am 3. Oktober 1995 in Fernsehen und Radio schalteten etwa 100 Millionen Menschen ein – mehr als beim Superbowl. Im Prozess um O. J. Simpson, der wegen des Doppelmords an seiner Ex-Ehefrau Nicole Brown Simpson und ihrem Begleiter vor Gericht saß, entschieden zwölf Geschworene. Das Urteil der Jury lautete: nicht schuldig.

Auch Harvard schützt vor Torheit nicht

Eines der belastenden Indizien, das die Staatsanwaltschaft vorbrachte, war, dass Simpson seine Frau nachweislich geschlagen habe. Der Harvard-Professor Alan Dershowitz war einer von Simpsons Verteidigern, er argumentierte mit Hilfe statistischer Wahrscheinlichkeit gegen dieses Indiz. In etwa so: Es stimmt, dass ein Großteil der Frauen, die getötet werden, von Männern umgebracht werden, mit denen sie eine Beziehung führen. Aber “nur” 0,1 Prozent der Männer, die ihre Frauen verprügeln, bringen sie schließlich auch um. Diese Wahrscheinlichkeit soll auch auf Dershowitz‘ Mandanten zutreffen. Natürlich hatten die Geschworenen in diesem Fall mehr zu beurteilen als Simpsons Gewalttätigkeit, der Ausgang des Prozesses hing nicht allein davon ab, aber Dershowitz‘ Argumentation sorgte für Verwirrung und wurde unter anderem in Fachzeitschriften diskutiert. Empirische Sozialforschung beginnt bei der sozialen Realität und einer Vermutung darüber, anhand dieser Vermutung trifft man die Wahl über die Methode. Sozialforscher wissen, egal ob sie sich für eine qualitative Methode, die uns viel über wenige erzählt, oder eine quantitative, die uns wenig über viele erzählt, entscheiden, egal wie methodisch sauber sie arbeiten, sie erheben die soziale Realität in dem Licht ihrer Untersuchung. Das soll keine Einladung zu einem postmodernen Beliebigkeitsverdacht frei nach Winston Churchill sein, der vielzitiert keiner Statistik trauen wollte, die er nicht selbst gefälscht hatte. Dennoch sollten die Genese der Statistiken und daraus resultierende Ergebnisse, die uns Sicherheit und Verlässlichkeit suggerieren, behutsam betrachtet werden.

Alles eine Frage der Perspektive

Nach einer Studie des Deutschen Statistischen Bundesamts in Wiesbaden etwa wurden 15,8 Prozent der deutschen Bevölkerung im Jahr 2010 als armutsgefährdet ausgewiesen. Als armutsgefährdet gilt, wer jährlich weniger als 60 Prozent des europaweiten Durchschnittseinkommens verdient. Ist der Armutsbegriff am durchschnittlichen Einkommen festgemacht, misst das zwar Ungleichheit im Einkommen, aber nicht Armut. Würde sich das Einkommen also verdoppeln, verdopple sich auch die Armutsgrenze, der Anteil an Armen bliebe derselbe. Statistische Korrelation heißt nicht gleich Kausalität. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts geht die Zahl der Piraten erkennbar zurück, gleichzeitig steigt die durchschnittliche Temperatur auf der Erde. Somalia hat weltweit die höchste Dichte an Piraten und gleichzeitig die global niedrigste CO2-Emission. Würden wir deshalb eine Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen Rückgang der Piraterie und Globaler Erwärmung herstellen? Ebenfalls hilfreich ist die Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Werten für das Lesen von Statistiken, doppelt so viele Hai-Angriffe klingt zum Beispiel spektakulärer als zehn nach fünf im Vorjahr. Relative Angaben sind für sich nicht falsch, bringen uns aber dazu, das Ausmaß der gegebenen Daten falsch einzuschätzen. Ähnlich irreführend können auch die grafischen Darstellungen korrekt erhobener Werte sein. Wenn zum Beispiel die Proportionalität zwischen dargestellten Zahlen und der sie repräsentierenden Fläche nicht gewahrt ist, oder Achsen stark in die Länge gezogen oder ohne Hinweis beschnitten werden, damit der optische Effekt größer ausfällt.

Mit Statistik in die Freiheit

Zurück zum Doppelmordprozess. Der Statistik-Professor Irving J. Good schrieb zur Argumentation von Simpsons Anwalt einen Beitrag in der Zeitschrift „Nature“. Er legt dar, dass nicht die bedingte Wahrscheinlichkeit, wie viele Ehemänner ihre Frauen umbringen, nachdem sie sie geschlagen hatten, für diesen Prozess wichtig sei. Relevant sei vielmehr die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass es der eigene Ehemann war, der seine Frau umgebracht hat, wenn er sie davor geschlagen hatte und diese Frau von jemandem getötet wurde. Von Dershowitz‘ Schätzungen ausgehend nahm Good eine hypothetische Grundgesamtheit von 10 000 Frauen an, die von ihren Ehemännern geschlagen werden. Von diesen Frauen wird in einem gegebenen Jahr eine ermordet. So ging auch Simpsons Anwalt vor, die Überlegung zu Grunde gelegt, dass 0,1 Prozent derjenigen Ehemänner, die ihre Frauen schlagen, diese auch umbringen, also einer von 1 000 dieser Männer. Pro Jahr, in dem sich eine Frau in einer gewalttätigen Ehe befindet, liegt das Risiko, vom gewalttätigen Ehepartner in diesem Jahr ermordet zu werden, bei einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 10 000. Weiter ermittelte Good die unbedingte Wahrscheinlichkeit einer gegebenen Person in einem gegebenen Jahr ermordet zu werden. Aus der offiziellen Verbrechensstatistik für die USA geht hervor, dass 1995 jährlich etwa 25 000 Menschen ermordet wurden, die Gesamtbevölkerung der USA lag während dem Prozess bei rund 250 Millionen Menschen. Also lag die Wahrscheinlichkeit für jede beliebige Person, einschließlich geschlagener Ehefrauen, in einem gegebenen Jahr ermordet zu werden, bei 250 Millionen durch 25 000, also auch bei 1 : 10 000. Zusammengefasst kann man sagen, dass von 10 000 Frauen in einem gegebenen Jahr zwei ermordet werden, davon eine von ihrem gewalttätigen Ehemann und die andere nicht. Good leitet daraus die Aussage ab, dass der gewalttätige Ehemann die Tat mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 2 oder 50 Prozent begangen hat. Noch vor jeder Beweisaufnahme trifft also von vornherein eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent und nicht 0,1 Prozent zu, so auch für O. J. Simpson. Ob sich Simpsons Verteidiger über die Zahlen selbst nicht genau im Klaren war, oder er bewusst so argumentiert hat, ist schwer zu sagen, vielleicht ging es ihm nicht um die korrekte statistische Interpretation, sondern, wie im Profisport, einfach ums Gewinnen.

Dieser Artikel erschien erstmals in der November-Ausgabe 2016

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