Am Wörgler Bahnhof wartet Professor Georg Anker auf die ersten Studierenden, die sich bereit erklärt haben, an seiner Exkursion teilzunehmen. Monatelang wurde diese Reise vorbereitet, Corona-bedingt fanden die Lehrveranstaltungen hierzu ausschließlich online statt. Zusätzlich stellten umfassende Sicherheitsmaßnahmen die Vorbereitungen vor immer neue Herausforderungen. Doch am 20. September sollte es schließlich soweit sein: Ein Kleinbus und ein Auto mit acht Studierenden (darunter ich), unserem Fahrer Klaus und dem Professor, setzen sich in Bewegung – nach Osten.

© Philipp Mühlegger
Zweisprachigkeit in einer burgenländischen Gemeinde.
Gegenstand dieser Exkursion ist das Erforschen von Österreichs autochthonen Minderheiten. Laut Artikel 8 des Bundesverfassungsgesetzes sind das sechs Volksgruppen, welche abseits der deutschsprachigen Mehrheit als alteingesessene Minderheiten in Österreich gelten: Im Burgenland wären das die Kroaten, Ungarn und Roma. In Wien sind außerdem Tschechen und Slowaken, in Kärnten und der Steiermark die Slowenen anerkannt. Diese Volksgruppen genießen eine Reihe an Minderheitenschutzrechten, darunter etwa Unterricht in ihrer Muttersprache oder mancherorts zweisprachige Topographie (u.a. Ortstafeln). Artikel 7 des Österreichischen Staatsvertrags gilt als eine der Grundlagen dieses Minderheitenschutzes, an sich reichen diese Rechte jedoch bis in die Zeiten der Donaumonarchie zurück.
Doch die Praxis abseits der Theorie sah lange anders aus: Viele Minderheitenschutzrechte (darunter im Schulwesen) wurden erst ab den 1980er Jahren allmählich umgesetzt. Das galt auch für die zweisprachigen Ortstafeln, wobei das Burgenland diese im Jahr 2000 schließlich endgültig offiziell machte. In Kärnten sollte es erst 2011 zur rechtmäßigen Umsetzung kommen. Die Folge war ein zunehmendes Verschwinden der Volksgruppen durch Assimilation an die deutschsprachige Mehrheitsbevölkerung – ein Prozess, der auch heute noch andauert. Gerade erst zu den Feierlichkeiten anlässlich 100 Jahren Kärntner Volksabstimmung entschuldigte sich Bundespräsident Alexander van der Bellen offiziell bei den Kärntnerslowenen dafür, dass es bis zur Umsetzung ihrer Rechte so lange gedauert hat. Im aktuellen Regierungsprogramm der türkis-grünen Koalition wurden neue Maßnahmen zu Erhalt und Anerkennung der autochthonen Minderheiten versprochen.

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Die erste zweisprachige Ortstafel im Burgenland.
Unter dem Titel „Die Burgenlandkroaten im kulturellen und sprachlichen Umfeld zu den Ungarn, Deutschen (Hianzen), Roma, Slowaken und Slowenen“ sollte es in dieser Exkursion darum gehen, einen Blick auf den Ist-Zustand zu werfen: Aus einer kulturwissenschaftlich-slawistischen Perspektive.
Doch wie ist dieses historische Zusammenleben verschiedener Sprachen und Kulturen überhaupt zustande gekommen? Kurz gehalten: Das Burgenland existiert in seiner heutigen Form erst seit 1921. Historisch setzt es sich aus Teilen von vier ungarischen Komitaten (Verwaltungseinheiten in Ungarn) zusammen. Zum Schutz der Grenze oder auch um die Wirtschaft nach Seuchen und anderen Krisen wieder anzukurbeln, siedelten Ungarns Könige und Fürsten Angehörige anderer Volksgruppen bereitwillig an ihren Grenzen an. Die Hianzen waren beispielweise Deutsche, die als Verteidiger der Außengrenzen des Reiches dienen sollten. Bei den Burgenlandkroaten gab es wiederum eine Win-win-Situation: Aufgrund der Frontstellung ihrer Heimat gegen die Osmanen war ihre Region um 1500 geprägt von Gewalt und Unsicherheit. Westungarns Fürsten brauchten wiederum Menschen, welche Felder bewirtschafteten und so der damaligen Agrarkrise entgegenwirkten: Daher ermutigten sie zehntausende Kroaten zur Migration in ihre Komitate. Infolge mehrerer Migrationswellen stellten Kroaten um 1600 bis zu 28% der Bevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes. Heute gibt es dort schätzungsweise noch 20.000 autochthone Kroaten. In kleinerem Ausmaß gibt es sie auch auf der anderen Seite der Grenze, in Ungarn und in der Slowakei.
Abstecher nach Kärnten
Ungeachtet des Burgenlandschwerpunktes sollte die Reise auch einen Exkurs nach Kärnten (slow. Koroška) zu den dort lebenden Slowenen ermöglichen. Über Osttirol, wo sich eine Ansiedelung von Slawen vor 1.400 Jahren belegen lässt, fuhren wir nach Kärnten und verbrachten unseren ersten Exkursionstag im Gailtal. Bei der Kirche in Feistritz im Gailtal, wo der örtliche Pfarrer Stanko Trap vor Jahrzehnten eine Friedenslinde für eine Aussöhnung zwischen Deutsch- und Slowenischsprachigen gepflanzt hatte, wurden wir in die slowenische Sprache und Kultur Kärntens eingeführt. Dazu zählte ein sprachwissenschaftlicher Vortrag von Professor Heinz-Dieter Pohl über Spuren slawischer Sprachen in Kärntner Ortsnamen, welche sich an die 1.000 Jahre zurückverfolgen lassen.

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Im Hof der Bäckerei und Mühle Wiegele in der Gemeinde Nötsch wurden uns wiederum Chorgesang alter kärntnerslowenischer Lieder und ein Gedicht in jener Sprache präsentiert. Auch konnten wir bei Frau Urban einen Blick auf eine traditionelle Gailtaler Tracht werfen – eine solche soll bis heute in St. Petersburg als eine der schönsten slawischen Trachten der Welt besichtigt werden können.
Die geschlossene Grenze
Gleich am nächsten Tag sollte es über die südliche Steiermark weitergehen ins Südburgenland. Und damit sind wir beim Hauptteil unserer universitären Exkursion angelangt. Vom südlichen Burgenland her arbeiteten wir uns schrittweise nach Norden vor, entlang der Grenze zu Ungarn, welche wegen verschärfter Coronamaßnahmen nun wieder geschlossen war. So konnte urplötzlich mitten auf einem Feldweg eine Absperrung auftauchen. Schilder wiesen darauf hin, dass die Grenze gesperrt sei.

© Philipp Mühlegger
Dieser Umstand war auch der Grund dafür, dass die Exkursion ausschließlich innerhalb Österreichs stattfand. Ursprünglich hätten wir auch autochthone Kroaten in Ungarn besucht, doch die neue Situation ließ uns letztendlich davon absehen. Ungeachtet dessen hatten wir ein dichtes Programm.
Land der Vielfalt
Das Burgenland selbst mag in seiner Vielfalt immer wieder aufs Neue überraschen: Es ist ein historisches Nebeneinander von Menschen deutscher, kroatischer und ungarischer Muttersprache. Nicht zu vergessen wäre Romanes, die Sprache der alteingesessen Roma. Es ist auch ein Nebeneinander der Konfessionen, nämlich traditionell der katholischen und der evangelischen. So besuchten wir etwa die Gemeinde Siget in der Wart: Dort gibt es eine evangelische Kirche, in welcher ungarische und deutsche Gottesdienste abgehalten werden. Gleich nebenan befindet sich eine katholische Kirche, in welcher rätselhafte historische Wandmalereien gefunden wurden. Was diese bedeuten und wer sie vermutlich angebracht hat, ist noch nicht eindeutig geklärt – ein gefundenes Forschungsfeld für die Geschichtswissenschaften!

@ Katharina Osl
Im Rahmen dieser Exkursion trafen wir Vertreter und Verteterinnen der verschiedenen autochthonen Minderheiten des Burgenlandes: So sprachen wir etwa mit Stanko Horvath, dem Vorsitzenden des Hrvatsko Kulturno Društvo (Kroatischer Kulturverein) als auch mit Joško Vlasich vom Kulturverein KUGA in Großwarasdorf/Veliki Borištof. Ein Treffen mit Mitgliedern des Burgenlandi Magyar Kultúregyesület (Burgenländisch-Ungarischer Kulturverein) wie etwa Iris Zsótér und Gespräche über ihr Vereinswesen und ihre aktuelle Situation durften nicht fehlen.
Für die burgenländischen Roma sprach Emmerich Gärtner-Horvath mit uns. Der Vorsitzende des Volksgruppenbeirats für die Roma und Obmann des Vereins Roma-Service erzählte der Gruppe von der Geschichte der Minderheit und von heute noch bestehenden Vorurteilen und Alltagsrassismus gegenüber seiner Ethnie. Nur wenige Roma überlebten die Zeit des Nationalsozialismus, wie wir auch im weiteren Verlauf unserer Reise feststellen mussten: So deportierten die Nazis allein aus der Gemeinde Jabing 93 Roma und Romnija in Konzentrationslager – nur fünf von ihnen waren nach der NS-Zeit noch am Leben. In Oberwart besuchten wir das Denkmal für die Opfer des Bombenanschlags von 1995 mit vier Toten, begangen vom Rechtsextremen Franz Fuchs.
Der Literaturpapst mit Partyhut und Maske
Abseits des Politischen lernten wir Trachten, Küche und Musik der Volksgruppen kennen. Hinzu kam auch ein Treffen mit der Literatur: Auf dem „Mount Blanc von Zagersdorf“, einer geografischen Erhebung, welche von Kartografen schließlich zu einem Gebirge verklärt wurde, trafen wir die Schriftstellerin Ana Schoretits. Die Autorin mit burgenlandkroatischen Wurzeln schreibt auf Deutsch und Kroatisch und reist bereits seit Jahren durch die Welt. Sie hat eine Reihe von Gedichten, Kurzprosa, Theaterstücken und Künstlermonographien herausgebracht, darunter zuletzt den lyrischen Band „Aushalten“ im Tyrolia-Verlag. Doch der größte Star der burgenlandkroatischen Literatur ist und bleibt der Schriftsteller Mate Meršić Miloradić, dessen Denkmal in Frankenau/Frakanava anlässlich seines 170. Geburtstags mit Partyhut und Mundnasenschutz dekoriert war.

© Katharina Osl
Im Rahmen der Exkursion besuchten wir verschiedenste themenbezogene Einrichtungen, Ortschaften und Veranstaltungen – nicht selten wurden wir von der jeweiligen Gemeinde eingeladen, so etwa in Frankenau/Frakanava oder Zagersdorf/Cogrštof. Um in Corona-Zeiten sicherzugehen, wurde der Großteil der Treffen und Veranstaltungen im Freien abgehalten. Da bei den Vorbereitungen zeitweise nicht gewiss war, ob diese Exkursion überhaupt stattfinden konnte, war ihre vorhergehende Organisation dementsprechend ein Kraftakt.
Das Ergebnis: Ein Buch wird geschrieben
Am 26. September trat unsere Gruppe schließlich die Heimreise an. Doch wer glaubt, diese Exkursion sei mit der Heimfahrt aller Studierenden abgeschlossen, der irrt. Jeder und jede von uns hat jeweils ein Thema bearbeitet und dabei durch Interviews und Gespräche mit Kennern und Kennerinnen des Burgenlandes umfassend recherchiert. Die Themen reichen dabei von der Frage der Umsetzung der Minderheitenrechte gemäß Staatsvertrag über die traditionelle Küche und die Trachten bis hin zum Bildungs- und Schulwesen. Ein Beitrag widmet sich den Besonderheiten der burgenländischen Variante des Kroatischen – als Sprache von vor 500 Jahren zugewanderten Flüchtlingen hat sich das Kroatische im Burgenland anders entwickelt als die Standardsprache der heutigen Republik Kroatien. Hinzu kommt ein umfassender Reisebericht, welcher die Spuren unserer Exkursion informativ wie auch unterhaltsam nachzeichnet. Die Präsentation des Sammelbandes wird voraussichtlich im kommenden Frühjahr stattfinden.
Die Exkursion zeigte, dass andere Sprachen und Kulturen auf dem Gebiet des heutigen Österreichs nicht erst seit der Zuwanderung jugoslawischer und türkischer Gastarbeiter bestehen. Österreich kann auf eine jahrhundertelange Geschichte des Zusammenlebens verschiedener Sprachen und Kulturen zurückblicken. Vielleicht konnte diese Exkursion auch ihren Teil zum Fortbestand dieser Vielfalt beitragen.
Besonderer Dank gilt Professor Georg Anker und unserem Fahrer Klaus Bauhofer, den an der Exkursion teilnehmenden Studierenden Andrea Tschugg, Ana-Laura Romandi, Constantin Ferrari, Matthias Krivdić, Srđan Mandić, Anastasiia Ivanova, Katharina Osl und allen weiteren Mitwirkenden