„Die Erinnerten“ ist ein Roman von Andreas Pavlic, der am 2. September bei Edition Atelier in Wien erschienen ist. Der Autor selbst ist gebürtiger Innsbrucker und lebt heute in Wien. Er erzählt in seinem neuesten Werk von zwei Liebenden aus Innsbruck, die zwar nicht in die Geschichte eingehen, sie aber zumindest ein gutes Stück des Weges begleiten.
Geschichte im Zeitraffer
Die Geschichte von Annemarie und Johann beginnt im Jahr 1932. Die beiden mehr oder minder enthusiastischen Sozialdemokraten laufen sich am Rande einer großen Rauferei zwischen den Roten und den Braunen in die Arme. Es ist der Beginn einer Beziehung, deren Gedeihen der Leser über mehrere Stationen der Geschichte miterleben kann. Nie sind es die großen, bekannten Ereignisse, an denen sich die Erzählung fortschreibt, sondern es ist der Wandel des Alltags durch die verschiedenen Zeiten und Regime jener Jahrzehnte. Seien es zuerst die regelmäßigen Kämpfe zwischen den Sozialisten, Christlichsozialen und den noch illegalen Nazis oder zuletzt das Heranrücken der Alliierten und das damit einhergehende wundersame Verschwinden aller Hakenkreuze von Fahnenmasten, Armbinden und Jackettkragen.
Die Brücken zwischen den Momentaufnahmen aus dem Leben von Annemarie und Johann werden von den Erzählpassagen gespannt, die zuweilen die Verbindung noch weiter schlagen, in die Gegenwart und Zukunft nämlich. Dabei erinnert sich der gemeinsame Sohn der beiden, der nach dem Ende seines eigenen Lebens die Erlebnisse seiner Eltern als Teil seiner eigenen Geschichte erlebt.
Die Historie in der Geschichte
Es ist zwar ein Roman aber man hält mit den „Erinnerten“ auch ein kleines Buch der österreichischen Geschichte in Händen. Es hat nicht weniger zum Thema als die großen politischen Umwälzungen und die geschichtlichen Schlüsselmomente Österreichs von der Zwischen- bis zur Nachkriegszeit. Vom Paramilitarismus über den Austrofaschismus bis zum Nationalsozialismus schafft es Pavlic die historischen Ereignisse in ihrer alltäglichen Auswirkung auf die Menschen einzufangen. Zur Geschichte werden diese Momente nämlich immer erst in der Retrospektive. Es gibt kaum Augenblicke, bei denen man schon im Geschehen wissen kann, wie geschichtsträchtig sie sind. Diese Arglosigkeit, mit der man den großen Weichenstellungen der Geschichte begegnet lässt Pavlic auch in der Sprache seiner Protagonisten immer wieder hervorblitzen.
Die Darstellung des ganz normalen Lebens eines ganz normalen Paares während dieser dunklen Zeiten macht die damaligen Ereignisse weit greifbarer als es das ein Geschichtsunterricht jemals könnte. Gleichzeitig verhindert die ja eigentlich nur nebensächliche Behandlung der politischen Umbrüche, sich wie ein Schulkind belehrt zu fühlen.
Leider aber ist die Fülle der Ereignisse, die Andreas Pavlic einbezieht, dann doch so groß, dass die Geschichte unserer Liebenden manchmal ein wenig in den Hintergrund rückt.
Auch die Zwischenschübe des Erzählers tragen nicht immer dazu bei, den Erlebnissen von Annemarie und Johann mit aller Leidenschaft zu folgen und sich in die Protagonisten hinein zu fühlen.
Die Vergangenheit vor der Haustür
„Die Erinnerten“ ist weder eine Heldengeschichte noch geht es etwa um große Kriegsverbrecher. Es ist ein Porträt der Mitschwimmer. Andreas Pavlics gekonnte und unauffällige Einbindung der historischen Ereignisse in die alltägliche Lebensrealität macht das Buch zu einem wertvollen Beitrag einer gesellschaftlichen Erinnerung. Der Schauplatz der Handlung ist Innsbruck. Die im Buch erwähnten Namen von Straßen, Bergen oder Brücken lässt für heutige Bewohner dieser Stadt die Vergangenheit noch näher rücken und macht sie erst so richtig greifbar.
Egal ob man sich in der Geschichte Österreichs auskennt oder nicht, das Werk bietet allen eine großartige Möglichkeit dazuzulernen. Auch viel Interessantes aus der Lokalgeschichte Innsbrucks webt der Autor in seinen Roman ein. All die historischen Begebenheiten im Buch, seien sie nun auf der lokalen oder weltpolitischen Ebene, sind ausgezeichnet recherchiert. Von der Neugier gepackte Lesende können sich mit der Literaturliste im Anhang des Romans auch selbst noch weiter in die Geschichte vertiefen.