Bush vs. Al Gore – 537 Stimmen, die die Welt veränderten

von Benjamin Hofer
Lesezeit: 8 min
Die globale Wirkungskraft amerikanischer Präsidentschaftswahlen tritt heute angesichts der anhaltenden Resonanz auf Trumps Wahlerfolg unübersehbar zutage. Doch selten offenbarte sich ihre Tragweite so eindringlich und greifbar wie im dramatischen Kontext der Wahl im Herbst des Jahres 2000. Inwiefern Bush vs. Al Gore den vermutlich größten Schmetterlingseffekt der modernen Politikgeschichte darstellt und warum individuelle Wahlentscheidungen nicht trivial sind.

Die Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 bot eines der dramatischsten Schauspiele in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Es dauerte fünf Wochen voller juristischer Auseinandersetzungen, Neuauszählungen und politischer Spannungen, bis klar war, dass George W. Bush das Amt antreten würde – mit einem Vorsprung von lediglich 537 Stimmen im Schlüsselstaat Florida. Der Supreme Court stoppte die manuelle Nachzählung, was Gore dazu veranlasste, seine Niederlage anzuerkennen. Wegen des Electoral College verlor er, obwohl er landesweit insgesamt über eine halbe Million Stimmen mehr erhalten hatte.

Die beiden Protagonisten dieses Wahldramas könnten kontrastreicher nicht sein: George W. Bush, dessen Vermächtnis durch den von ihm begonnenen Irak- und Afghanistan-Krieg geprägt ist, und Al Gore, der in den darauffolgenden Jahren für seinen Einsatz im Klimaschutz mit dem Friedensnobelpreis prämiert wird. Die Wahl des Jahres 2000 steht sinnbildlich dafür, wie tiefgreifend demokratische Entscheidungen das Schicksal einer Nation – ja, der gesamten Welt – prägen können. Sie wirft zugleich eine weitreichende Frage auf: Welche Weichen hätte die Geschichte gestellt, wäre Al Gore ins höchste Amt der Vereinigten Staaten gewählt worden?

Jede Stimme zählt: Das Wahldrama von 2000

Der Morgen des 8. November 2000 versprach zunächst das spannende Finale einer amerikanischen Präsidentschaftswahl einzuläuten. Noch konnte niemand ahnen, dass dieser Tag nicht den 43. Präsidenten der USA offenbaren, sondern die Verletzlichkeit des amerikanischen Wahlsystems in den Fokus rücken sollte. Im Mittelpunkt des Geschehens stand der Bundesstaat Florida, dessen 25 Elektorenstimmen das Zünglein an der Waage darstellten. Nach der ersten Auszählung lag George W. Bush mit lediglich 1.784 Stimmen vor seinem Konkurrenten Al Gore – bei rund 6 Millionen abgegebenen Stimmen im gesamten Bundesstaat. Dieser knappe Vorsprung löste eine automatische maschinelle Nachzählung aus, wie es das Gesetz in Florida vorschrieb.

Nach dieser Nachzählung schmolz Bushs Vorsprung auf 327 Stimmen. Doch dies stellte lediglich den ersten Akt eines wahren Wahldramas dar. Gore und die Demokraten forderten eine erneute Überprüfung, diesmal per Hand, in vier besonders umkämpften Wahlkreisen. Die manuelle Nachzählung entwickelte sich schnell zu einem chaotischen Prozess. Die sogenannten „Chads“ – perforierte Papierstücke, die bei Stanzkarten nicht vollständig entfernt wurden – führten zu einer Debatte darüber, welche Stimmen tatsächlich gültig waren. Lokale Wahlbehörden und Gerichte kämpften mit der Frage, wie Stimmen zu werten seien, bei denen die Wahlabsicht des Wählers unklar war. Besonders umstritten waren die „Hanging Chads“ – kleine Papierfetzen, die teilweise an den Wahlzetteln hingen und dadurch maschinell nicht korrekt erfasst wurden. Auch sogenannte „dimpled chads“, bei denen der Stanzpunkt nur eingedrückt, aber nicht durchgestanzt war, führten zu hitzigen Diskussionen.

Die Differenz zwischen den beiden Kandidaten wurde immer kleiner. Zwischenzeitlich betrug Bushs Vorsprung weniger als 200 Stimmen. Gleichzeitig entdeckten Wahlbeamte weitere Unregelmäßigkeiten: Stimmen von Militärangehörigen, die nicht korrekt gezählt worden waren, und fehlerhaft gestaltete Stimmzettel in Palm Beach County, die einige Wähler dazu verleitet hatten, versehentlich für den Kandidaten der Grünen, Ralph Nader, zu stimmen, statt für Gore. Der juristische Streit erreichte seinen Höhepunkt, als der Supreme Court der Vereinigten Staaten eingriff. Am 12. Dezember entschied das Gericht mit einer knappen Mehrheit von 9 zu 7, die manuelle Nachzählung zu stoppen. Dies bedeutete faktisch den Sieg für George W. Bush. Mit einem offiziell festgestellten Vorsprung von nur 537 Stimmen in Florida – einem Unterschied von weniger als 0,01 Prozent der abgegebenen Stimmen – sicherte sich Bush die entscheidenden 25 Elektorenstimmen und wurde damit zum 43. Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Demonstrationen als Folgen des Wahldramas – Photo by Elvert Barnes / APA Images

 Schwarzes Schaf im Weißen Haus

Dass Donald Trump schon in den 2000ern den damals regierenden George W. Bush den „schlechtesten Präsidenten aller Zeiten“ schimpfte, lässt das Herz eines jeden Zynikers höher schlagen. Doch mit diesem Attest ist der zu jener Zeit ausschließlich als Wirtschaftstycoon bekannte Trump nicht allein: Zwei angefangene Kriege im Nahen Osten, die Legitimierung von Foltermethoden, eine weitgehend umweltfeindliche Wirtschaftspolitik sowie der Anstieg der Arbeitslosenrate und der Staatsverschuldung geben Bush-Skeptikern jeden Grund, Donald Trumps Meinung dahingehend zu teilen.

Der 11. September 2001, als das mit Bushs Amtszeit unvermeidlich assoziierte  Ereignis, markierte dabei den Beginn eines globalen „Kriegs gegen den Terror“, den Bush entschlossen anführte. Mit der „Operation Enduring Freedom“ in Afghanistan begann ein militärischer Einsatz, der anfangs breite Unterstützung fand, jedoch am Aufbau eines stabilen Staatswesens in dem Land scheiterte. Noch folgenreicher war der Irakkrieg 2003. Unter dem Vorwand, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen, begann eine Invasion, deren Rechtfertigung sich als Trugbild entpuppte. Die Destabilisierung des Nahen Ostens, das Erstarken extremistischer Gruppierungen wie des Islamischen Staats und die unzähligen zivilen Opfer dieses Konflikts lasten schwer auf Bushs Vermächtnis. Die Enthüllungen über Folter in Abu Ghraib und die Praxis unbefristeter Internierungen in Guantanamo beschädigten die moralische Identitätder USA nachhaltig.

Während Bush weltweit Krieg führte, entzog er sich klimapolitisch seiner Verantwortung. Der Rückzug aus dem Kyoto-Protokoll im Jahr 2001 war ein Affront gegen die internationale Gemeinschaft und setzte ein fatales Signal. Unter dem Deckmantel wirtschaftlicher Interessen förderte die Bush-Administration fossile Energien, lockerte Umweltvorschriften und verhinderte nachhaltige Fortschritte. Erst am Ende seiner Amtszeit erkannte Bush die Dringlichkeit des Klimawandels – viel zu spät, um verlorenen Boden gutzumachen. Bushs Präsidentschaft steht für die Missachtung von Möglichkeiten, Frieden und Nachhaltigkeit zu fördern. Stattdessen hinterließ er eine Welt, die von militärischen Konflikten geplagt und ökologisch geschwächt war.

George W. Bush, 43. Präsident der Vereinigten Staaten, nimmt zum ersten Mal am Resolute Desk im Oval Office Platz – in Anwesenheit seines Vaters, George H. W. Bush, der 41. Präsident der Vereinigten Staaten – Photo by Series: Photographs Related to the George W. Bush Administration / APA Images

Eine unbequeme Wahrheit – Al Gore als Klimakämpfer

Al Gore hingegen hat sich wie kaum ein anderer Politiker der Bekämpfung des Klimawandels verschrieben und dabei globale Anerkennung erlangt. Sein Engagement begann bereits in den frühen 1990er-Jahren mit der Veröffentlichung seines Buches Earth in the Balance, das eine umfassende Analyse der Umweltprobleme und mögliche Lösungsansätze präsentierte. In seiner Rolle als Vizepräsident (1993–2001) setzte er sich für die Förderung erneuerbarer Energien und die Reduzierung von Treibhausgasen ein. Nach seiner politischen Karriere intensivierte Gore seinen Einsatz und wurde zu einer Schlüsselfigur der amerikanischen Umweltbewegung.

2006 gelang Al Gore mit der Dokumentation Eine unbequeme Wahrheit (An Inconvenient Truth) ein Coup in der weltweiten Klimadebatte. Der Film, basierend auf seiner Vortragsreihe, sensibilisierte Millionen Menschen für die Gefahren der globalen Erwärmung. Die Dokumentation gewann zwei Oscars und statuierte ein Exempel in einer neuen Phase des Klimadiskurses. Daraufhin gründete Gore das Climate Reality Project, eine Organisation, die Aktivisten weltweit darin schult, den Kampf gegen den Klimawandel voranzutreiben. Für seine Bemühungen, den Klimawandel ins Zentrum des politischen und gesellschaftlichen Bewusstseins zu rücken, erhielt Gore 2007 gemeinsam mit dem Weltklimarat IPCC den Friedensnobelpreis.

In zahlreichen Reden postulierte er, dass es nicht nur wichtig sei, Ziele zu formulieren, sondern auch konkrete Maßnahmen einzuleiten. So rief er die Investmentfirma Generation Investment Management ins Leben, welche auf die Förderung nachhaltiger Unternehmen und Technologien setzt. Seine Forderung nach einer vollständigen Umstellung auf erneuerbare Energien innerhalb eines Jahrzehnts verglich er mit der Herausforderung der Mondlandung unter John F. Kennedy.

Trotz seiner Verdienste blieb Gore nicht ohne Gegenwind. Konservative Stimmen warfen ihm vor, von der Klimakrise finanziell zu profitieren. Zudem wurde der Begriff „Gore-Effekt“ geprägt, um ironisch auf plötzliche Kälteeinbrüche während seiner öffentlichen Auftritte hinzuweisen. Beispielsweise mussten Senatsanhörungen zu einem Klimaschutz-Gesetz wegen eines Schneesturms abgesagt werden.  Diese Stimmen spiegelten jedoch eher Diffamierungsversuche des gegnerischen politischen Lagers wider als fundierte Kritik – Widerstände, denen Klimaschützer häufig begegnen.

Al Gore als Speaker der “Power Shift” Konferenz 2011 – Photo by Kasey Baker / APA Images

Der Flügelschlag der Demokratie

Eindrücklich verdeutlicht  der von Edward N. Lorenz geprägte Begriff des „Schmetterlingseffekts“, das Prinzip, wie kleine Handlungen – in diesem Fall ein paar Hundert individuelle Wahlentscheidungen in Florida – weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen können. Die Wahl zwischen George W. Bush und Al Gore war alles andere als trivial: Sie war eine Entscheidung zwischen  zwei fundamental abweichenden Visionen für die Zukunft der Vereinigten Staaten, deren Konsequenzen der ganze Globus mitträgt.

Während Bushs Administration die Vereinigten Staaten in zwei verlustreiche Kriege führte und klimapolitische Rückschritte einleitete, avancierte Al Gore zu einem globalen Verfechter des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit. Der Kontrast zwischen den beiden Kandidaten hätte kaum schärfer sein können: der pragmatische, polarisierende Konservatismus eines Bush und der idealistische Aktivismus eines Gore, der den Klimaschutz als moralische Verpflichtung darstellt. Beide Wege zeigen die Chancen und Versäumnisse einer Supermacht im Übergang ins 21. Jahrhundert.

Diese Wahl verdeutlicht: In den Wahlkabinen getroffene Entscheidungen haben globale Auswirkungen zur Folge, deren Tragweite oft erst die Retrospektive offenbart. Am Ende sollte uns nicht primär die Frage „Was wäre gewesen, wenn Al Gore Präsident geworden wäre?“ auf der Seele brennen – eher sollte sich die Mahnung in den Köpfen jedes Wählenden festigen, welche weitreichenden Konsequenzen diese individuelle Stimmabgabe haben kann. Denn wie Lorenz’ Metapher des Schmetterlings uns lehrt: Kleine Entscheidungen können große Wellen schlagen – und den Kurs der Welt bestimmen. Die Richtung dieser Wellen liegt in unseren Händen.

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