UNIpress: Im Buch „Die Türkei am Scheideweg“ schreibst du, dass wir nicht das Recht hätten, den Kampf für eine bessere Welt aufzugeben. War dies der Grundsatz, der dich in die Türkei geführt hat?
Max Zirngast: Ich glaube, ich habe den Satz in Bezug auf den 10. Oktober 2015 in Ankara gesagt. Damals sind bei einem doppelten Selbstmordanschlag während einer Demonstration für die Demokratie über hundert Menschen gestorben. Und im Andenken an diese Menschen haben wir nicht das Recht, ihren Kampf aufzugeben. Also nein, das war nicht unbedingt der Satz, der mich in die Türkei geführt hat, denn ich glaube, dass er überall gilt. Ich bin aufgrund einer Reihe von Zufällen in die Türkei gegangen: Aufgrund von Menschen, mit denen ich Kontakt hatte und weil es mich interessiert hat, wie es um die Geschichte und um die Lage in dem Land steht. Es hätte auch woanders sein können, ist aber dann eben die Türkei geworden. Und über die Jahre hinweg wächst man zusammen und es entwickeln sich Bindungen, die sehr tiefgehend sind und dann auch nicht so leicht aufhören.
UP: Welche Erfahrungen hast du mit der dortigen Medienlandschaft gemacht?
Zirngast: Ich habe jetzt nicht direkt mit den türkischen Medien gearbeitet. Das heißt aber nicht, dass ich nicht Bekannte, Freunde und Freundinnen habe, die bei türkischen Medien arbeiten. Vor allem in den Jahren, in denen ich dort war – ab dem Putsch im Juli 2016 und dem darauffolgenden Ausnahmezustand – haben wir eine rapide Transformation der Medienlandschaft gesehen. Sie war zwar schon davor ziemlich auf das Regime zugetrimmt, wurde dann aber so transformiert, dass 90 bis 95 Prozent der Medien nun direkt dem Regime unterstehen. Das passierte teilweise durch direkte Repressionen, Entlassungen, Festnahmen und dem Verbot von Medien. Indirekt passierte es dadurch, dass ökonomischer Druck ausgeübt und Medien aufgekauft wurden. Heute haben wir eine Medienlandschaft, die mehr oder weniger auf Linie ist. Gleichzeitig gibt es aber vor allem im Internet eine extrem spannende, alternative, kritische Medienlandschaft.
UP: Warst du dir der Risiken deiner Tätigkeit von Anfang an bewusst?
Zirngast: Ja, grundsätzlich schon. Es ist klar, dass so etwas in der Türkei passieren kann. Aber das Level der Repression hat sich in den Jahren, in denen ich dort war, verändert. Es ist sehr viel stärker geworden und die Repression ist über traditionell von solchen Maßnahmen betroffene Kreise – also vor allem die kurdische und linke Opposition – hinausgegangen und hat noch viel größere Bereiche der Gesellschaft erfasst.
UP: Du warst letztendlich über drei Monate in Haft und schreibst dazu, dass du die Tage im Gefängnis nutzen und gegen die Zermürbung ankämpfen wolltest. Was waren dabei die großen Herausforderungen?
Zirngast: Das ist eine Haltung, die man meines Erachtens wählen muss, um dort halbwegs aufrecht wieder herauszukommen. Wir haben versucht, die Zeit möglichst produktiv zu nutzen, viel zu lesen, Sport zu machen – also Körper und Geist fit zu halten. Und ich glaube, dass uns das einigermaßen gut gelungen ist.
Man kämpft im Prinzip gegen die Einrichtung des Gefängnisses per se: Das Raum- und Zeitregime des Gefängnisses mit allem, was dazu gehört.
Wir haben auf die Isolation, die Unsicherheit und die spezifische Raum-Zeit-Struktur dort mit Kreativität, Disziplin und Solidarität geantwortet.
UP: Du schreibst nicht nur politikwissenschaftliche und journalistische Texte, sondern etwa auch über Raum und Zeit im Gefängnis. Ist das Schreiben für dich auch in gewisser Weise zum Selbstzweck geworden?
Zirngast: Nein, eigentlich nicht. Ich schreibe in erster Linie politische Kommentare – journalistisch, politikwissenschaftlich, an der Schnittstelle von Journalismus und Politikwissenschaft oder an der Schnittstelle von Wissenschaft und politischer Intervention. Das ist mein spezifischer Stil, den ich für durchaus produktiv und gut halte. Klarerweise muss man im Gefängnis zu anderen Methoden und Textformen greifen – allein schon, weil alles durch die Zensur geht. Auch die Art und Weise, wie man im Gefängnis schreibt, ist anders: Man schreibt nicht am Computer, sondern mit Stift und Papier und die Recherchemöglichkeiten sind relativ gering. Ich glaube aber nicht, dass das Schreiben bei mir allein zum Selbstzweck wird. Ich glaube, dass es viele Wege gibt, um gewisse Inhalte zu vermitteln, und ich versuche, sie alle mehr oder weniger einzusetzen und für mich zu gewinnen.
UP: Was war aus deiner Sicht der eigentliche Grund deiner Freilassung?
Zirngast: Ich glaube, dass wir das nie erfahren werden. Ich gehe von einem Zusammenspiel von mehreren Gründen aus, sowohl bei der Entlassung nach drei Monaten als auch beim Freispruch nach einem Jahr. Wesentliche Faktoren sind die internationale Solidaritätskampagne, die große Medienaufmerksamkeit und Solidaritätsbekundungen aller Art. Dadurch wurde Druck auf die österreichischen Behörden ausgeübt. Was sie dann genau gemacht haben, weiß ich nicht, sie haben es mir nie gesagt. Und dann kam dazu, dass die Anklage auch für die Verhältnisse in der Türkei dünn und schwach war. Außerdem erfolgte der Freispruch in einer Phase, wo das Regime politisch eher in die Ecke gedrängt war. In diese Phase fiel nicht nur unser Freispruch, es gab auch Freisprüche und Entlassungen von vielen anderen Menschen. Ich glaube, dass die türkischen Behörden gewisse Prozesse, die nicht unbedingt von staatstragender Bedeutung waren, schnell abwickeln und die überfüllten Gefängnisse damit entlasten wollten.
UP: Die Grazer Staatsanwaltschaft stellte ebenfalls Untersuchungen gegen dich an und stand hierzu auch mit den türkischen Behörden in Kontakt. Wie bewertest du das?
Zirngast: Ja, das ist eben interessant, weil es nicht nur gegen mich ging. Es scheint Usus zu sein, dass die jeweils zuständige österreichische Staatsanwaltschaft bei Prozessen in der Türkei aktiv wird. Das Interessante bei meinem Fall ist, dass auch die Ermittlungsergebnisse der österreichischen Kriminalpolizei hervorgehoben wurden, die im Übrigen relativ absurd sind. Das war eine wüste Zusammenstellung an Unwahrheiten und Sachen, die nicht einmal die Türkei in ihrer Anklage gegen mich behauptet hat.
Aber da hat die Grazer Staatsanwaltschaft sozusagen Schützenhilfe für die türkische Justiz geleistet.
Es ist dann glücklicherweise nicht dazu gekommen, dass das irgendwelche tragischen Auswirkungen für uns hatte, aber es hätte durchaus passieren können, dass sich die türkische Justiz dann motiviert fühlt, weiter zu machen.
Im Wesentlichen haben wir dadurch gesehen, dass sich Teile der österreichischen Justiz die Haltung zu eigen machen, die Türkei als demokratischen Rechtsstaat und die türkische Justiz als funktionierende Justiz anzusehen. Mit Aussagen wie “Wir können nicht vom Schreibtisch aus der Türkei die Rechtsstaatlichkeit absprechen” schlagen sie sich auf die Seite dieses Regimes und stellen sich gegen die Menschen, die angeklagt sind. Bei mir war es so, dass mit der Einstellung des Verfahrens in der Türkei auch das Verfahren in Österreich eingestellt wurde, aber nicht davor, sondern als Reaktion darauf. Es gibt aber zum Beispiel auch Verfahren, wie das von Mülkiye Laçin, einer österreichischen Staatsbürgerin, die seit über dreißig Jahren in Wien wohnhaft ist und dort Arbeit und Familie hat. Sie durfte zwar aus der Türkei ausreisen, aber ihr Prozess läuft weiter. Es wurde in Erfahrung gebracht, dass es auch in Österreich ein Ermittlungsverfahren gegen sie gibt. Sollte sie in der Türkei verurteilt werden, stellt sich die Frage, was die österreichische Justiz machen würde.
UP: Dein und ihr Fall sind keine Einzelfälle. Du hast von vollen Gefängnissen und vielen laufenden Prozessen in der Türkei gesprochen. Berichten internationale Medien ausreichend über die Lage in der Türkei?
Zirngast: Schwierig ist, dass die Zahl der Fälle von politisch Inhaftierten in der Türkei in die Zehntausende geht. Und klarerweise erregen Fälle, die keinen Bezug zu Österreich oder Deutschland haben oder keine großen Fälle sind, keine allzu große Aufmerksamkeit. Das ist der Medienlogik inhärent. Es wäre wichtig, dass man diese Fälle berücksichtigt. Man muss verstehen, dass die politischen Repressionen durch die Antiterrorpolizei und durch den Justizapparat staatliche Politik sind und keine Ausnahmefälle. Nach meinem Freispruch die Aussage zu tätigen, dass dadurch ein Schritt zur Rückkehr zum Rechtsstaat stattgefunden hätte, ist natürlich absurd, wenn immer noch Zehntausende von politischen Gefangenen in Gefängnissen sind und viele mehr einen Prozess am Laufen haben. Es gibt gerade einen Fall, wo ein Vorarlberger in der Türkei zu über sechs Jahren Haft verurteilt wurde:
Ilhami Sahbaz war nur dort, um seinen kranken Vater zu besuchen.
Es dürften psychische Folter und Druck auf ihn ausgeübt worden sein – nämlich indem ihm gesagt wurde, dass sein Vater verschwinden würde, wenn er gewisse vorgefertigte Aussagen nicht unterschreibe. Es ist in der Praxis schon oft passiert, dass Menschen dazu gezwungen werden, irgendwelche Zettel zu unterschreiben. Und dieser Fall ist jetzt erst seit einigen Tagen in der österreichischen Medienöffentlichkeit. Diese sollte das österreichische Außenministerium dazu drängen, den Fall neu aufzurollen, sodass sein Urteil revidiert wird.
UP: Welche Ziele willst du in nächster Zeit erreichen?
Zirngast: (lacht) Das ist eine gute Frage. Ich war vier Jahre in der Türkei. Ich bin seit vier Monaten wieder hier und habe diese Zeit im Prinzip herumreisend verbracht und eine große Zahl an Vorträgen, Interviews, Diskussionsrunden oder andere Veranstaltungen hinter mir. Das wird noch ein paar Wochen so weitergehen und dann werde ich diese Form von Tätigkeit, zumindest in dieser Intensität, beenden. Ich möchte zu einem geregelteren Leben zurückkehren und mein Masterstudium fertigmachen, das ich aufgrund der Verhaftung nicht beenden konnte. Mein Einsatz für die Werte, die mir wichtig sind, wird natürlich weitergehen – in welchem Zusammenhang auch immer.
UP: Kannst du dir vorstellen, auf absehbare Zeit wieder in die Türkei zurückzukehren?
Zirngast: Ich kann es mir auf jeden Fall vorstellen. Aber ich habe mich dafür entschieden, es fürs Erste nicht zu machen. Ich habe grundsätzlich kein Einreiseverbot, aber ich bin im Moment relativ exponiert in der Öffentlichkeit. Es handelt sich dabei immer um eine Risikoabschätzung und darauf will ich es im Moment nicht ankommen lassen. Die Türkei kann sich aber ändern: Es kann zu einer Demokratisierung kommen und dann ändern sich auch die Möglichkeiten. Ich würde sehr gerne in die Türkei reisen und wenn ich es für sinnvoll und nicht riskant halte, werde ich das auch machen.
UP: Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute.
(Gespräch vom 07. Februar 2020)