Kalaschnikow statt Köttbullar: Schwedens brutale Bandenkriege

von Benjamin Hofer
Lesezeit: 5 min
Ob in Pisa-Tests, Messungen der Lebensqualität oder dem Happiness-Index, Schweden ist bei nahezu jeder dieser Statistiken ganz vorne dabei. Doch dass jenes mit Ikea, Abba und Zimtschnecken verbundene Land auch die traurige Rangliste der meisten Schusswaffen-Morde in Europa anführt, passt nicht ins Bild.

Die Straßen Stockholms, Uppsalas oder Malmös schreiben seit geraumer Zeit Geschichten mit Handlungen voller kindlicher Protagonisten. Diese Geschichten lassen jedoch jeden Hauch von Bullerbü vermissen und entstanden nicht im Geiste Astrid Lindgrens, sondern entspringen der düsteren Feder einer harten Realität, geprägt von Bandenkriminalität und Drogenkrieg. Dreizehnjährige, die aufeinander schießen, und Drogenbarone, die sich mit blutbefleckten Händen die Tasche füllen. Das sorglose schwedische „Fika“ auf der einen und ein Alltag voller hemmungsloser Brutalität und omnipräsenter Ungewissheit auf der anderen Seite.

Waffengewalt im Wohlfahrtsstaat

Während die Mordraten in ganz Westeuropa seit den 1990er-Jahren sinken, verzeichnet Schweden einen besorgniserregenden Anstieg und hat nun die höchste Rate in Europa. Im Jahr 2022 wurde im Schnitt jede Woche mindestens eine Person erschossen – insgesamt 62 an der Zahl. Zusätzlich wurden über 100 durch Schusswaffen verletzt – ein trauriger Rekord. Im Vergleich dazu verzeichnete Norwegen vier Todesopfer, ebenso wie Dänemark, während Finnland zwei Opfer zu beklagen hatte. Die Gewalt eskalierte 2023 weiter, als allein im September elf Menschen starben. Die Hauptstadt Stockholm weist mittlerweile eine Pro-Kopf-Mordrate auf, die 30-mal höher ist als jene in London. Doch wie konnte Schweden, bekannt als Hort des sozialen Friedens, zum Hotspot europäischer Drogenkriege werden?

Die Antwort liegt in einer unheilvollen Mischung aus gesellschaftlicher Segregation, sozialer Ungleichheit und unheilvoller Entwicklungen. Die Ursachen der Gewalt in Schweden sind vielschichtig und komplex. Zum einen hatten viele Familien, die in den letzten Jahrzehnten nach Schweden gekommen sind, kaum Chancen, sich in die schwedische Gesellschaft zu integrieren. Viele der Geflüchteten wurden von Beginn an in sozial und wirtschaftlich benachteiligte Viertel segregiert, die durch verfallene Wohnstrukturen, begrenzte öffentliche Dienstleistungen und eine hohe Arbeitslosenquote gekennzeichnet sind. Jene Viertel, die vor Perspektivlosigkeit strotzen, entwickeln sich zu Nährböden für kriminelle Aktivitäten. Dies hat zur Entstehung von Parallelgesellschaften geführt, in denen die staatliche Autorität schwach ist und kriminelle Strukturen florieren.

Ein weiterer Faktor ist die allgemeine wirtschaftliche Ungleichheit. Schweden, insgesamt ein wohlhabendes Land, weist erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Regionen auf. Besonders in den Vororten der großen Städte gibt es viele Familien, die in Armut leben und wenig Perspektiven haben. Das schwedische Schulsystem, einst ein Vorbild in Sachen Chancengleichheit, hat durch die freie Schulwahl und die unzureichende Finanzierung öffentlicher Schulen zur sozialen Segregation beigetragen. Kinder aus benachteiligten Vierteln besuchen unzureichend ausgestattete Schulen und haben somit schlechtere Zukunftsaussichten. Die jungen Menschen, oft kaum älter als 13 oder 14 Jahre, werden von kriminellen Netzwerken förmlich verschlungen und für schmutzige Aufgaben missbraucht. Viele dieser Kinder stammen aus geflüchteten Familien, die in Schweden keine Wurzeln schlagen konnten. Die soziale Isolation und Perspektivlosigkeit treiben sie in die Arme der Kriminalität.

Bandenkrieg remote – die Strippenzieher und ihre Vorgehensweise

Diamant Salihu, ein angesehener Investigativ-Journalist aus Stockholm, zeichnet in seinen Werken ein düsteres Bild der kriminellen Netzwerke. Besonders ins Rampenlicht rückt dabei die „Foxtrot“-Bande, deren interner Zwist um Geld und Macht zu einem blutigen Krieg eskaliert ist. Ihr Anführer lenkt seine Geschäfte aus der Ferne, sicher verborgen in der Türkei, und entzieht sich so dem Zugriff der schwedischen Behörden.

Die Bandengewalt ist längst aus den urbanen Schatten von Stockholm, Göteborg, Malmö und Uppsala hinausgewachsen und sucht nun auch idyllische Kleinstädte wie Helsingborg und Umeå heim. Hier tobt ein mörderischer Alltag, angetrieben von territorialen Kämpfen im Drogenhandel oder der Vergeltung gekränkter Ehre. Bandenmitglieder setzen nicht nur auf Schusswaffen, sondern greifen auch zu Handgranaten und Bomben, wobei immer mehr Unschuldige in den Sog der Gewalt geraten. Die Ermordung einer jungen Mutter, während sie auf offener Straße mit ihrem Kleinkind im Arm spazierte, oder die Detonation einer Bombe in einem Stockholmer Restaurant sind die Spitze des Eisbergs.

Diese Skrupellosigkeit der Banden findet sich auch in der Verwendung von „Kindersoldaten“ wieder. Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren werden für einfache Botendienste angeworben, um sie Stück für Stück zu radikalisieren, bis sie nicht mehr vor Mordaufträgen zurückschrecken. Zudem machen die geringen Strafen für minderjährige Täter – maximal vier Jahre Jugendhaft, oft mit Zugang zu modernen Annehmlichkeiten wie einem iPad – das Verhältnis zwischen Strafe und potenzieller Rendite in monetärer und reputierlicher Form meist umso attraktiver.

Schwedischer Polizeiwagen – Photo by fcruse / APA Images

Die mehrdimensionale Antwort

Die schwedische Regierung steht vor einer gigantischen Herausforderung. Premierminister Ulf Kristersson von der bürgerlich-konservativen Moderaten Sammlungspartei hat angekündigt, das Militär im Kampf gegen die Bandenkriminalität einzusetzen – eine Maßnahme, die in einem demokratischen Staat wie Schweden beispiellos ist und die Ernsthaftigkeit der Lage verdeutlicht.

Parallel dazu werden landesweit neue Präventionsprogramme eingeführt. Sie basieren auf einem erfolgreichen Modell aus Malmö: Hier treffen sich Bandenmitglieder, Opfer und Behörden, um Ausstiegsszenarien zu erörtern und Alternativen zur kriminellen Laufbahn aufzuzeigen. Durch gezielte Maßnahmen wie Bildungsprogramme, Berufsausbildung und psychosoziale Betreuung wird versucht, die Jugendlichen aus dem Einflussbereich der kriminellen Netzwerke zu lösen und ihnen eine Perspektive zu bieten.

Die schwedische Justiz steht vor der Herausforderung, einerseits hart gegen die Kriminellen vorzugehen und andererseits Präventionsmaßnahmen zu ergreifen, um die Ursachen der Kriminalität zu bekämpfen. Die Einführung härterer Strafen für jugendliche Straftäter und die Einrichtung von Jugendgefängnissen sind Schritte, die die Abschreckung erhöhen sollen. Gleichzeitig müssen jedoch auch Programme zur sozialen Integration und zur Unterstützung gefährdeter Jugendlicher ausgebaut werden.

Schwedisches Summa summarum

Schweden zeigt sich derzeit gespalten zwischen seiner Reputation als friedlicher Wohlfahrtsstaat und der Realität auf den Straßen. Die steigende Zahl der Schusswaffen-Morde wirft lange Schatten auf die skandinavische Idylle. Um diesen düsteren Trend zu stoppen, bedarf es tiefgreifender Reformen in der Integrationspolitik, im Bildungssystem, dem sozialen Ausgleich und in der Kriminalprävention. Nur so kann Schweden hoffen, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen und zu einem Land zurückzufinden, das nicht durch Waffengewalt, sondern durch seine soziale Stabilität und Lebensqualität auffällt.

Schwedens vordringlichste Aufgabe wird es sein, die Teilhabe an den Glanzpunkten seines Staates und seiner Gesellschaft, die zweifellos in Hülle und Fülle vorhanden sind, noch umfassender zu ermöglichen und einer marginalisierten Gruppe neue Perspektiven zu eröffnen. Durch gezielte Maßnahmen zur sozialen Integration und wirtschaftlichen Teilhabe gilt es, die tiefen Gräben zu überwinden, die eine fortdauernde Quelle der Aggression darstellen.

Nur so wird es möglich sein, den in dem Land wütenden Sturm in eine sanfte Brise zu verwandeln, eine Brise, die dem schwedischen Lebensgefühl der Gelassenheit und Progressivität gerecht wird.

 

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