Ein Land ist wie ein altes Häuschen: Die Mauern, festgefügt aus einer gemeinsamen Geschichte und Herkunft, bieten Schutz, aber sie engen auch ein. In diesen Mauern entstehen Erzählungen – von Gemeinschaft, von Zugehörigkeit, von Stolz. Diese Erzählungen sind stark und verlockend. Sie geben Halt, wenn draußen der Sturm der Unsicherheit tobt. Doch das Fundament des Hauses ist fragil. Es beruht nicht auf Tatsachen, sondern auf Vorstellungen. Menschen definieren sich durch ihre Herkunft, sie kämpfen für sie, sterben für sie. Und manchmal, in den dunklen Winkeln dieses Hauses, verbirgt sich der Hass. Wie ein Feuer, das man nicht sieht, aber dessen Rauch man riecht. Patriotismus kann wärmen, aber er kann auch verbrennen.
In einer Welt, die sich immer schneller dreht, suchen Menschen Halt – und sie finden ihn oft in den einfachen Antworten. In den Geschichten, die ihnen erzählen, dass ihr Land das Beste, ihre Kultur die einzig wahre sei. Die Frage ist: Kann man auf etwas stolz sein, für das man selber gar nichts kann? Wann wird die Liebe zur Heimat zur Gefahr? Und wo endet die berechtigte Verbundenheit und wo beginnt die blinde Ideologie?
Kämpfen für die eigenen…
Kein Mensch kann sich aussuchen, wo er geboren wird – und trotzdem sind viele stolz auf ihr Heimatland. Das könne man gewissermaßen vergleichen mit der Liebe zur eigenen Familie, meint Phillip Ardoin, Professor für Politikwissenschaft an der Appalachian State University. „Menschen tendieren dazu, Gruppen zu bilden und sich diesen zugehörig zu fühlen. Das hat auch mit der Evolution zu tun: In Gruppen überlebt es sich leichter.“ Damit ist der Hang zum Patriotismus tief in der menschlichen Psyche verwurzelt und kann auch als Form der emotionalen Bindung verstanden werden: „Patriotismus ist im Grunde das Gefühl, dass alle Mitglieder unserer Gemeinschaft oder unseres Landes besonders und schützenswert sind.“ Wer sich seiner Familie, seinem Stamm oder eben seinem Land zugehörig fühlt, sei eher bereit, sich für diese einzusetzen und sie nach außen vor Bedrohungen zu verteidigen.
„Patriotismus ist prinzipiell rational.“ – Phillip Ardoin, Politikwissenschaftler
Dementsprechend sei Patriotismus prinzipiell etwas Rationales und gut für Gesellschaften, so Ardoin – aber nur, wenn er nicht in den Nationalismus abdrifte. Auch David Wineroither, ebenso Experte für Politikwissenschaft, ist der Ansicht, dass dem Patriotismus potenziell „viel Positives innewohnt, solange er ohne Überhöhung oder Ausschließung anderer auskommt. Dann macht er einen Teil des Kitts aus, der uns von einer Gesellschaft sprechen lässt.“ Dennoch habe man es beim Patriotismus mit einem zweischneidigen Schwert zu tun, und die Grenze zum Nationalismus sei offen. Auch Erkenntnisse aus der Psychologie zeigen: Patriotisch veranlagte Menschen tendieren oft stark zu nationalistischen und fremdenfeindlichen Ansichten, eine scharfe Trennung beider Gesinnungen ist nicht möglich. Denn gruppenbezogenes Verhalten stiftet zwar Identität, kann aber auch zur Ausgrenzung anderer führen.
…und gegen die anderen?
Unterstützt wird diese Sichtweise durch die Sozialidentitätstheorie von Henri Tajfel und John Turner. Diese betont, dass sich Menschen stark über die Zugehörigkeit von sozialen Einheiten – einschließlich der eigenen Nation – definieren. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies in Tajfels Experimenten zum sogenannten Minimalgruppenparadigma. Dabei wurden die Teilnehmer:innen nach willkürlichen Kriterien aufgeteilt. Es zeigte sich: Bereits minimale und völlig triviale Zugehörigkeiten reichen aus, um eine starke Präferenz für die eigene Gruppe zu erzeugen. Selbst ohne jegliche Interaktion oder realen Wettbewerb zeigten die Teilnehmer:innen eine klare Bevorzugung der eigenen, lediglich gedanklich konstruierten Gruppe – oft nicht, um den größtmöglichen Vorteil für die eigene Seite zu erzielen, sondern um den Unterschied zur anderen Gruppe zu maximieren. Dies verdeutlicht, wie tief die Neigung zur Bildung von sozialer Verbundenheit in der menschlichen Natur verankert ist – ein Mechanismus, der auch den modernen Patriotismus prägt.
Doch nicht jeder Mensch entwickelt in gleichem Maße patriotische Gefühle. Wie Phillip Ardoin hervorhebt, neigen Menschen mit weniger universalistischen Weltanschauungen tendenziell stärker zu patriotischen und oft auch nationalistischen Einstellungen. Solche Personen fühlen sich in einem stark strukturierten nationalen Rahmen sicherer und lehnen oft kosmopolitische oder multikulturelle Ansätze ab. Ardoin beobachtet, dass Menschen mit einer eingeschränkten Sicht auf die Welt und schwach ausgeprägter Fähigkeit zum kritischen Denken anfällig für extreme Formen des Patriotismus und Nationalismus sind. Sie greifen nach einfachen Erzählungen, die ihnen ihre Nation als überlegen präsentieren. In diesem Kontext wird Patriotismus schnell zu einer unreflektierten Ideologie, die aus blindem Stolz erwächst.
Österreich: Patriotischer Spätzünder
Obwohl man seine Wurzeln bis zur Evolution zurückverfolgen kann, ist Patriotismus eher eine moderne Form des Gruppendenkens: Als Begleiterscheinung der Nationenbildung sei er vor allem „ein Auswuchs des 19. Jahrhunderts“, so David Wineroither. Etwas wie eine nationale Identität hat es in den lose verbundenen und oft sehr heterogenen Gesellschaften in Europa vorher so nicht gegeben. Das Narrativ der Nation, einer durch eine gemeinsame Heimat, Geschichte und Kultur verbundenen Gemeinschaft, musste erst mühsam konstruiert werden. Österreich stellt hier einen Sonderfall dar: Nach dem Wandel vom Vielvölkerstaat zu einem Kleinstaat mit ausgeprägten deutschnationalen Tendenzen, kulminiert im gänzlichen Verzicht auf Eigenstaatlichkeit im Zuge des „Anschluss“ an Nazideutschland, musste Österreich nach 1945 erst (wieder) ein nationales Selbstverständnis entwickeln.
Dieses Unterfangen ist gelungen: Im internationalen Vergleich verfügen die Österreicher:innen über ausgesprochen viel Nationalstolz. Das Land ist bei verschiedenen Patriotismus-Rankings regelmäßig vorne mit dabei. Auch die heimischen Parteien wissen den Patriotismus für sich einzusetzen: Allen voran natürlich die FPÖ, die gern mit „Heimatliebe“-Slogans um die Wählerschaft buhlt. Aber auch der ÖVP ist der Patriotismus nicht fremd: Als sogenannte „Bürgermeisterpartei“ (sie stellt bundesweit sehr viele Ortschef:innen) setze die Volkspartei vor allem gerne auf einen sanfteren „Regional- und Lokalpatriotismus“, stellt Wineroither fest.
„Mitte-Rechts- und Rechts-Parteien tun sich mit Patriotismus natürlich leichter.“ – David Wineroither, Politikwissenschaftler.
„Im Allgemeinen tun sich Mitte-Rechts- und Rechts-Parteien mit dem Thema natürlich leichter als jene Mitte links und ganz links“, räumt der Experte ein. Gerade die sozialistische Arbeiterbewegung, aus der die sozialdemokratischen Parteien erwuchsen, war von Anfang an betont internationalistisch und suchte die Solidarität eher in einer gemeinsamen Klassenzugehörigkeit als einer gemeinsamen Herkunft – man denke nur an den Ausspruch „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“.
Aber: Auch Linke können mit einer „milderen“ Form des Patriotismus Erfolg haben. Wineroither erwähnt als Beispiel Alexander Van der Bellen im Präsidentschaftswahlkampf 2016. Der Tiroler präsentierte sich damals auf Wahlplakaten naturverbunden vor der Kulisse des Kaunerbergs, geworben wurde unter anderem mit den Slogans „Heimat braucht Zusammenhalt“ und „Wer unsere Heimat liebt, spaltet sie nicht“.
Nationalstolz im Zeitalter von Europäisierung und Globalisierung
Die Liebe zum Vaterland können auch noch andere Dimensionen ergänzen. Neben dem bereits erwähnten „Regionalpatriotismus“ ist zunehmend die Verbundenheit zu Europa als Ganzes ein Thema, vor allem vonseiten liberaler Parteien und Bewegungen. Das muss den Stolz aufs eigene Land aber nicht ausschließen. „Wir alle bestehen aus verschiedenen Identitäten. Diese können zwar in Konflikt treten, in diesem Fall kommen sie aber in der Regel gut miteinander aus“, erklärt Wineroither.
Tatsächlich scheinen – aller europäischen Integration und fortschreitenden Globalisierung zum Trotz – Patriotismus und Nationalismus im Steigen begriffen zu sein. Was paradox erscheint, hängt sogar zusammen, argumentiert Politikwissenschaftler Ardoin: „Es gibt einen Backlash gegen die Bedrohung, die die Globalisierung für unsere eigenen Lebensweisen und Kulturen darstellt.“ Auch Wineroither meint: „Im globalistischen Zeitalter gibt es weniger und/oder brüchigere Gewissheiten. Das fördert gruppenspezifisches Denken.“
Momentan geht der Trend wohl eher zum „Europa der Vaterländer“, in dem nationale Gepflogenheiten bewahrt anstatt angeglichen werden und der Nationalstolz der Europa-Verbundenheit nicht weicht, sondern diese höchstens zulässt. Es zeigt sich: Patriotismus ist keineswegs überholt. Der „Auswuchs des 19. Jahrhunderts“ hat sich bis ins 21. gehalten – und wird uns noch eine Weile begleiten.
Jenseits des blinden Fahnenwehens
Patriotismus, so scheint es, ist eine Frage der Balance. Zwischen Stolz und Überhöhung, zwischen Zugehörigkeit und Ausgrenzung, zwischen Identität und Ideologie. Er bietet Halt, schenkt Stabilität und formt Gemeinschaft. Doch er kann auch trennen, Grenzen ziehen, die uns voneinander entfremden. Die wahre Herausforderung des Patriotismus liegt darin, offen zu bleiben – für neue Geschichten, andere Menschen, fremde Welten. So bleibt Patriotismus nicht nur ein Gefühl von Heimat, sondern ein Ort, der Raum lässt – für all das, was anders ist und doch dazugehört.