Noch nie war es so spannend – und so kompliziert. Die Nationalratswahl 2024 hat Österreich in eine politische Pattsituation geführt, die selbst erfahrene Beobachter vor Herausforderungen stellt. Mit dem historischen Sieg der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) unter Herbert Kickl ist die Bildung einer stabilen Regierung alles andere als sicher. Österreich sieht sich einem politischen Puzzle gegenüber, dessen Lösung nur durch das Zurückstellen hochfliegender Ansprüche und die mühevolle Versöhnung unvereinbarer Ideologien möglich wird.
Ein Wahlsieg ohne Machtperspektive
Mit 28,85 Prozent der Stimmen und 57 Mandaten hat die FPÖ als stärkste Kraft im Parlament die Nase vorn. Doch was auf den ersten Blick wie ein klarer Weg hin zur Regierungsbildung erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine politische Sackgasse. Keine der anderen Parteien – weder die ÖVP (51 Mandate) noch die SPÖ (41 Mandate), die NEOS (18 Mandate) oder die Grünen (16 Mandate) – hat sich willens gezeigt, mit der FPÖ unter der Führung von Herbert Kickl zu koalieren. Der Wahlsieg der FPÖ wird somit zu einer paradoxen Situation: Als stärkste Partei verfügt sie über die politische Legitimation, eine Regierung zu führen, doch fehlen ihr die Alliierten, um eine Mehrheit zu bilden.
„Eine klassische Pattsituation“, wie Bundespräsident Alexander Van der Bellen die Lage treffend beschreibt. Seine Entscheidung, der FPÖ vorerst keinen Regierungsbildungsauftrag zu erteilen, sondern die Parteien zu weiteren Sondierungsgesprächen aufzufordern, verdeutlicht die Brisanz der Lage. Während Herbert Kickl seine Kanzlerschaft als Voraussetzung zum Eintritt in eine gemeinsame Regierung postuliert, wird seine Person von den meisten Parteien als unüberwindbares Koalitions-Hindernis betrachtet.
Mögliche Szenarien: Eine Dreierkoalition als Notlösung?
Die Herausforderung besteht nun darin, eine Koalition zu formen, die eine Mandats-Mehrheit mit parteiprogrammatischer Kompromissbereitschaft verbindet. In den vergangenen Jahren waren Koalitionen aus zwei Parteien die Norm, doch diese Option scheint derzeit in weiter Ferne. Die politische Arithmetik könnte die Parteien zu neuen, unkonventionellen Allianzen zwingen:
- Türkis-Rot: Die knappe Mandatsmehrheit von ÖVP und SPÖ ließe im parlamentarischen Alltag nur wenig Spielraum. Schon das Fehlen eines einzigen Abgeordneten könnte die Mehrheit kippen und eine Handlungsunfähigkeit der Regierung zur Folge haben. Eine solche Koalition würde von vornherein auf wackeligen Beinen stehen und dürfte sich in einer ständigen Zerreißprobe wiederfinden. Aus beiden Lagern ist zu vernehmen, dass eine derart prekäre Mehrheitskonstellation kaum als tragfähige Grundlage für stabile Regierungsarbeit gelten könne. Die Unsicherheit über die eigene Mehrheit könnte die Koalition somit bereits im Keim ersticken und die geplanten Reformvorhaben in einem ständigen Schwebezustand belassen.
- Türkis-Rot-Pink: Diese Konstellation würde 110 der 183 Mandate im Nationalrat vereinen und hätte damit eine komfortable Mehrheit. Doch dies wäre wohl keine Zusammenarbeit aus Überzeugung, sondern eine aus der Not geborene Allianz, die erhebliche Kompromisse von allen Beteiligten erfordern würde. Eine Annäherung könnte gelingen, wenn die Parteien sich auf einen „Reformpakt“ für bestimmte Schwerpunktthemen einigen – ähnlich dem historischen „Großen Koalitionsvertrag“ von 1966. Die NEOS könnten als Vermittler fungieren, doch ihr Einfluss bliebe marginal, sollte die SPÖ auf der Durchsetzung sozialpolitischer Positionen beharren.
- Türkis-Grün-Rot: Diese Konstellation wäre, ebenso wie die Türkis-Rot-Pink-Option, ein Novum in der österreichischen Politik und könnte als kraftvolles Symbol einer geeinten Front gegen die FPÖ gewertet werden. Doch das zerrüttete Verhältnis zwischen Grünen und ÖVP nach den Meinungsverschiedenheiten der letzten Legislaturperiode, besonders in der Umweltpolitik, erschwert diese Option.
- Minderheitsregierung: Sollte keine der größeren Koalitionsoptionen zustande kommen, könnte die ÖVP versuchen, als zweitstärkste Partei eine Minderheitsregierung zu bilden – entweder mit Unterstützung der SPÖ oder der FPÖ bei einzelnen Abstimmungen. Doch eine Minderheitsregierung würde Österreich in eine Phase politischer Instabilität führen, in der die Regierung kaum handlungsfähig wäre.
- Neuwahlen: Das wohl unerwünschteste, aber nicht unmögliche Szenario ist eine baldige Neuwahl. Eine erneute Rückkehr an die Urnen könnte das politische System weiter destabilisieren und den Aufstieg von Protestparteien fördern.
Die Rolle des Bundespräsidenten
Bundespräsident Van der Bellen hat durch seine Entscheidung, der FPÖ keinen sofortigen Regierungsbildungsauftrag zu erteilen, eine aktive Rolle im Prozess der Regierungsbildung übernommen. Diese Entscheidung ist ein deutlicher Bruch mit der üblichen Vorgehensweise und signalisiert, dass er das politische Wohl des Landes über die bloße formale Legitimität der FPÖ stellen möchte. Kritiker werfen ihm vor, seine parteipolitische Vergangenheit bei den Grünen nicht überwunden zu haben und eine Regierungsbildung nach eigenem Gutdünken zu steuern.
Doch Van der Bellen verteidigt seine Entscheidung als notwendig angesichts einer „politischen Pattsituation“, in der keine klaren Mehrheiten zustande kommen. Er fordert von den Parteien eine Klärung ihrer Positionen und eine Bereitschaft zur Kooperation über ideologische Grenzen hinweg. Es scheint, als würde der Präsident die Parteien zwingen wollen, Kompromisse zu schließen, die im Wahlkampf undenkbar schienen. Seine Strategie könnte sich als effektiver Gesprächs-Treiber erweisen – oder als ungewollter Katalysator für eine weitere Eskalation des politischen Stillstands.
Fazit: Ein politischer Drahtseilakt ohne Netz und doppelten Boden
Die Regierungsbildung nach der Nationalratswahl 2024 stellt Österreich vor eine der schwierigsten politischen Herausforderungen der letzten Jahrzehnte. Keine der klassischen Koalitionsoptionen scheint stabil genug, um die tiefen politischen und gesellschaftlichen Gräben zu überbrücken. Die etablierten Volksparteien müssen eine Lösung finden, die nicht nur kurzfristige Stabilität verspricht, sondern auch langfristig das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnt.
Ob es gelingt, eine tragfähige Regierung zu formen, bleibt offen. Sicher ist nur, dass der Ausgang der Verhandlungen die Richtung für die politische Zukunft Österreichs bestimmen wird. Die Weichen für die kommenden Jahre werden in diesen Wochen gestellt – und der Druck auf alle Beteiligten ist immens.
Die Wahl mag entschieden sein, doch die wahre Herausforderung liegt erst vor Österreichs Spitzenpolitik.