Transnistrien wirkt nicht nur wie ein kommunistisches Freiluftmuseum, sondern ist bei näherer Betrachtung ein Kaleidoskop verschiedener Interessen und Einflüsse: eine schmale Landbrücke, gefangen zwischen der Ukraine und Moldau. Es ist ein Ort, an dem 375.000 Menschen leben und viele von ihnen ein zwiespältiges Dasein fristen, von der internationalen Gemeinschaft als Region der Republik Moldau bewertet, einzig von Russland in seiner Souveränität bejaht – ein geopolitisches Relikt, das die Echos vergangener Zeiten in die moderne Welt trägt.
Expecto Patronum: Lenin vs. Harry Potter
Wenn man durch die Straßen Tiraspols, der de facto Hauptstadt von Transnistrien (de jure ist sie die zweitgrößte Stadt Moldaus) spaziert, wirkt es, als wäre man in einem kommunistischen Pendant des Disneylands gelandet. Heiter kann mit Genossinnen und Genossen vom Lenin-Denkmal hinter dem transnistrischen Regierungsgebäude über die Strada Lenin zum „Dino nou UDSSR“ (für Touristen mit „Back in the USSR“ Restaurant ausgewiesen) geschlendert werden, um dort traditionell sowjetisches Essen zu konsumieren. Nach einer üppigen Mahlzeit führt einen der Verdauungsspaziergang an einem Gemälde von Juri Gagarin, dem ersten Menschen im All und sowjetischen Nationalhelden, vorbei zum Alexander-Suworow-Denkmal (Russischer General des 19. Jahrhunderts) und lässt über unkonventionelle Flaggen staunen. Jede einzelne dieser Flaggen repräsentiert ein Mitglied der „Gemeinschaft nicht anerkannter Staaten“ und würdigt somit die Schicksalsgenossen des Regimes Transnistrien.
Um der Skurrilität den Hut aufzusetzen, befindet sich vis-à-vis diesem Anblick eine Harry Potter Bronzestatue in Lebensgröße. Die Strada 25 Octombrie (am 25. Oktoberjul. 1917 war die gewaltsame Machtübernahme durch die kommunistischen Bolschewiki in Russland) führt dann vom Monument des Zauberjünglings über ein sowjetisches Panzerdenkmal ins Hotel Russia, wo sich der Urlaubende bei Nacht seinen romantischen Träumen von Arbeiteraufständen und der Planwirtschaft hingeben kann.
Während die jüngeren Generationen in dieser bizarren Region nur aus Erzählungen von den alten Sowjetzeiten wissen, steht die Stadt selbst wie ein offenes Geschichtsbuch da, in dem die Monumente der Vergangenheit mit den modernen Einflüssen eines globalisierten 21. Jahrhunderts verschmelzen. Hier trifft Lenin auf Harry Potter.
Das Tauziehen um die Region
Der sowjetische Einfluss ist demnach allgegenwärtig, doch nicht nur Hammer und Sichel auf Wappen, Leninbüsten und Straßennamen geben die bleibende sowjetische Affinität mehr als preis. Auch die Präsenz der russischen Truppen, die seit Jahrzehnten stationiert sind, spricht Bände.
Denn das geopolitische Interesse Russlands an Transnistrien ist tief in der Geschichte verankert. Die Region hat strategische Bedeutung, sowohl als Pufferzone zu Moldau als auch als potenzielle Brücke zum Westen. Die Bewahrung russischer Interessen in diesem Gebiet ist ein Bestreben des Kremls, der versucht, Einfluss auf seine Nachbarn auszuüben und die Überbleibsel des Sowjetimperiums aneinanderzurücken und zusammenzuhalten. Trotz seiner wirtschaftlichen Schwäche ist Transnistrien ein politischer Akteur, dessen Loyalität Russland sich nicht entgehen lassen möchte.
Die jüngsten Entwicklungen verdeutlichen die Dynamik des Konflikts. Die separatistischen Behörden in Tiraspol beschuldigen die Republik Moldau, die Region wirtschaftlich und sozial zu unterdrücken, und forderten den russischen Staat zu einem Eingreifen auf. In einer Stellungnahme erklärte der Kreml kürzlich, dass der Schutz der Bewohner Transnistriens eine Priorität sei. Das hat die Spannungen weiter verschärft.
Die Region leidet unter den Folgen des andauernden geopolitischen Tauziehens. Transnistrien ist wirtschaftlich beidseitig abhängig von Russland und Moldau, was den Konflikt noch komplizierter macht. Eine umfassende Einigung in der Region ist schwer zu erreichen, da die Interessen der verschiedenen Akteure kaum miteinander vereinbar sind.
Der Sheriff von Transnistrien
Im wilden Westen der transnistrischen Wirtschaft herrscht ein eiserner Sheriff. Das von zwei ehemaligen KGB-Agenten 1993 ins Leben gerufene Unternehmen mit selbigen Namen (Sheriff) ist tief in den Stoff der Gesellschaft eingewoben. Was einst als einfache Sicherheitsfirma begann, hat sich zu einem multifunktionalen Konglomerat entwickelt, das jeden Winkel der transnistrischen Wirtschaft durchdringt.
Sheriff beherrscht die Straßen mit seinen Supermärkten, dominiert die Mobilfunklandschaft mit dem Monopolbetreiber Interdnestrcom, betreibt einen Fußballklub, der im November 2021 bereits das königliche Real Madrid in der UEFA Champions League bezwang, erzeugt den äußerst beliebten Likör „Kvint“, verfügt über das dortige Glücksspielmonopol, leitet eine Wohnungsbaugesellschaft, führt die regionale Nahrungs- und Genussmittelproduktion an und prägt die Medienlandschaft über seinen Fernsehsender TSW.
Das Unternehmen hat einen so tiefgreifenden Einfluss auf die transnistrische Wirtschaft, dass es in einigen Schätzungen für 60 Prozent ihrer Aktivität verantwortlich gemacht wird. Neben diesem immensen geschäftlichen Einfluss hat sich Sheriff auch in den Strukturen der Macht etabliert. Dies wurde durch ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis mit dem ersten Präsidenten Transnistriens Igor Smirnow gefördert, wobei Sheriff die Regierung finanziell unterstützte und im Gegenzug erhebliche Steuer- und Zollvergünstigungen erhielt. Interessanterweise wurde die Zollbehörde von Wladimir Smirnow, dem Sohn des Präsidenten, geleitet, der auch finanziell an Sheriff beteiligt sein soll. Sheriff trug im Jahr 2020 mit seinen Steuern zu mindestens 50 Prozent des Staatsbudgets bei.
Die ungeklärte politische Situation Transnistriens beeinträchtigte zwischenzeitlich das Wachstum von Sheriff woraufhin das Unternehmen, die im Jahr 2000 gegründete Partei „Erneuerung“ unterstützte. Diese setzt sich für die Unabhängigkeit Transnistriens und dessen wirtschaftliche Interessen ein. Mehrere Schlüsselfiguren der Firma, einschließlich des Gründers und der Personalchefin, sind mittlerweile Parlamentsabgeordnete dieser Partei.
Durch die Kontrolle über das Mobilfunknetz und den Fernsehsender konnte Sheriff seinen politischen Einfluss weiter ausbauen und die Partei „Erneuerung“ gewann bei den Parlamentswahlen 2005 die absolute Mehrheit. Nach dem Wahlsieg wurde der Parlamentspräsident ausgetauscht, was Präsident Smirnow dazu veranlasste, Sheriff des Versuchs eines Staatsstreichs zu beschuldigen. Diese Vorwürfe wurden von dem Unternehmen zurückgewiesen. Die Unternehmensleitung bekräftigte jedoch ihre Interessen an der politischen Unabhängigkeit Transnistriens.
Der Konzern symbolisiert die undurchsichtige Allianz von Geschäft und Politik im transnistrischen Macht-Gefüge und spiegelt die komplexen Strukturen wider, die dieses Gebiet beherrschen.
Das Geschmäckle von vergangenen Konflikten
In der Atmosphäre von Transnistrien weht ein Hauch von Déjà-vu, ein Echo der Unruhen, die schon die Ukraine und Georgien erschütterten. Die Annexion der Krim und die Unterstützung für die Separatisten im Donbass stehen symptomatisch für eine Strategie, die ethnische Zerwürfnisse und politische Fragilität geschickt für eigene Machtambitionen nutzt. Eine historische Parallele ist unverkennbar. Der Ruf nach Schutz durch Moskau erinnert an den Vorwand, den Russland 2014 für die Intervention in der Ukraine nutzte.
Der Konflikt in Transnistrien ist nicht nur ein regionales Problem. Die moldawische Regierung hat wiederholt ihre Sorge über die separatistischen Tendenzen in Transnistrien geäußert und die enge Bindung der Region an Russland kritisiert. Mit dem Blick fest auf die Sterne der EU gerichtet, erhofft sich die Regierung Moldawiens in der europäischen Integration eine Chance, den russischen Einfluss zu minimieren und Stabilität in der Region zu schaffen.
Die Entwicklung Transnistriens steht somit wie ein fesselndes Rätsel da, dessen Entschlüsselung nicht nur für die unmittelbar Beteiligten von Bedeutung ist, sondern auch tiefe Einsichten für die weltweite Gemeinschaft gewähren könnten. Hält Transnistrien an seinem kommunistischen Erbe fest? Kann sich die Region von seinen bilateralen Abhängigkeiten losreißen und einen echten Schritt in Richtung Souveränität setzen? Wird Russland die Präsenz in Transnistrien weiter intensivieren? Fragen, deren Antworten nur die Zukunft parat hält. Sie werden über das transnistrische Schicksal entscheiden.